Bald Antidot für Ticagrelor verfügbar?
In Notfallsituationen lässt sich die plättchenhemmende Wirkung von Ticagrelor womöglich bald durch ein spezifisches Antidot aufheben. Bentracimab hat nun auch in einer randomisierten Studie seine Effektivität unter Beweis gestellt.
Ungeplante Operationen, spontane Blutungen, Unfälle – es gibt Situationen, in denen eine rasche Aufhebung der plättchenhemmenden Wirkung von Ticagrelor von Vorteil wäre. Bisher gibt es hierfür allerdings keine zufriedenstellende Option, denn eine Thrombozytenfusion funktioniert nur bei Prasugrel und Clopidogrel in einem zufriedenstellenden Ausmaß, nicht aber bei Ticagrelor.
„Vielversprechende Option zur Aufhebung von Ticagrelor“
Doch bald könnte es auch für Ticagrelor eine Möglichkeit zur raschen Wirkumkehr geben. Bentracimab – ein spezifisch gegen Ticagrelor gerichtetes Antidot – hat in einer randomisierten Phase 2B-Studie seine Wirksamkeit und Sicherheit erneut unter Beweis gestellt. „Basierend auf diesen Daten scheint Bentracimab eine vielversprechende Option zur Aufhebung der Ticagrelor-Wirkung zu sein“, resümierte Studienautor Prof. Deepak Bhatt beim ACC-Kongress in Washington, wo er die aktuellen Ergebnisse vorstellte.
Wie der Kardiologe vom Brigham and Women's Hospital in Boston dort ausführte, bindet Bentracimab freies Ticagrelor mit hoher Affinität und Spezifität. Dadurch verhindert die Substanz die Blockierung des P2Y12-Rezeptors durch den Thrombozytenaggregationshemmer. ADP sei wieder in der Lage, die Plättchen zu aktivieren, so Bhatt, derweil die entstehenden Bentracimab/Ticagrelor-Komplexe aus dem Blutstrom eliminiert werden.
Belege für die Wirksamkeit der Substanz haben bereits die beim AHA-Kongress 2021 präsentierten präspezifierten Interimsergebnisse der Phase 3-Studie REVERSE-IT beigesteuert. In dieser nicht-randomisierten, offenen Studie hat Bentracimab eine sofortige und anhaltende Aufhebung der Antiplättchen-Wirkung von Ticagrelor bewirkt.
Randomisierte Studie mit 200 gesunden Probanden
Die beim ACC vorgestellten Ergebnisse liefern nun einen weiteren Beweis für die Effektivität der Substanz, diesmal auf Basis einer randomisierten Phase 2-Studie. Insgesamt 200 gesunde freiwillige Probanden in einem Alter von 50 bis 80 Jahren (50% Frauen) wurden zunächst für 48 Stunden lang mit Ticagrelor und ASS vorbehandelt und in der Folge 1:3 randomisiert: 150 Teilnehmer bekamen das Antidot infundiert, die restlichen 50 Placebo.
In der Folge sank die prozedurale Hemmung der Plättchenfunktion (PRU-Werte) innerhalb der nächsten vier Stunden – der primäre Endpunkt der Studie – bei den mit Bentracimab behandelten Probandinnen und Probanden deutlich ab, nicht aber in der Placebo-Gruppe. Dieser Unterschied war hochsignifikant (p ˂ 0,0001). Die rasch zunehmende Thrombozytenaktivität nach der Antidot-Infusion zeigte sich in zwei verschiedenen Plättchenfunktionstest (VerifyNow und VASP PRI).
Keine Thrombosen und Nebenwirkungen
Thrombotische Ereignisse oder Nebenwirkungen traten als Folge der Antidot-Infusion nicht auf. Das bestätige das Sicherheitsprofil der Substanz, so Bhatt. Ebenso habe es keine Hinweise für einen „Reboundeffekt“ gegeben, führte der Studienautor aus. Also eine übermäßige Plättchenaktivierung als Reaktion auf die Aufhebung der P2Y12-Inhibition ist ausgeblieben, jedenfalls ließen sich in der Studie keine erhöhten Konzentrationen von Markern einer gesteigerten Plättchenaktivierung (P-Selectin und mittleres Thrombozytenvolumen) nachweisen.
Teilgenommen an der Studie haben allerdings Personen ohne bekannte kardiovaskuläre Vorerkrankung. Die Frage ist somit, ob ein Reboundeffekt nach Gabe des Antidots auch bei kardial erkrankten Patienten nicht zu befürchten ist. Es gebe aber keinen Grund zu glauben, dass sich die Substanz bei solchen Patienten anders verhält, meint Bhatt dazu. Darüber hinaus gilt es zu beachten, dass die aktuelle Studie nicht darauf angelegt war, den Einfluss von Bentracimab auf das Auftreten von Blutungskomplikationen zu untersuchen. Wie Bhatt beim ACC ankündigte, werden entsprechende Daten nach Abschluss der REVERSE-IT-Studie vorliegen.
Antidot im beschleunigten Zulassungsverfahren
Trotz der offenen Fragen sieht auch die anschließende Diskutantin Dr. Binita Shah den dringenden Bedarf eines Ticagrelor-Antidots. Es wäre wichtig, eine solches Medikament im Repertoir zu haben, angesichts der wachsenden Zahl an Patienten, die mit P2Y12-Inhibitoren behandelt werden, und der im Leben vorkommenden Situationen, die eine rasche Wirkumkehr der Plättchenhemmung erfordern wie Unfälle, ungeplante Operationen, Stürze usw., erläuterte die Kardiologin aus New York.
Angesichts dieses Bedarfs hat die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA Bentracimab bereits den Status einer „Breakthrough Therapy“ verliehen. Auch die europäische Arzneimittel-Agentur EMA hat das Medikament in ihr PRIME-Programm für eine beschleunigte Zulassung aufgenommen.
Literatur
Bhatt D: Bentracimab Immediately and Significantly Reverses the Antiplatelet Effects of Ticagrelor in Older People, Featured Clinical Research I, American College of Cardiology 2022 Scientific Session, 2. April in Washington