Vollantikoagulation bei COVID-19: Früh hui, spät pfui?
Für nicht intensivpflichtige COVID-19-Patienten könnte eine therapeutische Antikoagulation Vorteile mit sich bringen, deuten die Ergebnisse der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a-Studien an. Ein Experte äußert sich trotz allem zurückhaltend. Denn letztgültige Antworten liefen die Daten nicht.
Die COVID-19-Erkrankung geht mit einem vergleichsweise hohen Risiko für venöse Thromboembolien (VTE) einher, das ist kein Geheimnis. Metaanalysen beziffern die Prävalenz im Mittel auf 14%, bei intensivpflichtigen Patienten höher. Im Verlauf fanden sich immer mehr Hinweise darauf, dass eine systemische Hyperkoagulabilität ein Merkmal von COVID-19 ist, und es konnte auch gezeigt werden, dass es eine Korrelation zwischen hohen D-Dimeren im Plasma und schlechtem Überleben gibt.
Weniger klar war, inwieweit COVID-19 sich damit grundsätzlich von anderen schweren Infektionen unterscheidet. Der Corona-Exzeptionalismus führte im ersten Pandemiesommer jedenfalls dazu, dass einige Experten relativ rasch die Vollantikoagulation oder zumindest eine intermediäre Antikoagulation statt der reinen Thromboseprophylaxe für intensivpflichtige COVID-19-Patienten empfahlen. Nicht wenige Wissenschaftsjournalisten sprangen auf den Zug auf.
Pauschale Vollantikoagulation bei ICU-COVID-Patienten ist out
Das hat sich mittlerweile als Fehler herausgestellt. In der INSPIRATION-Studie hatte es bei intensivpflichtigen COVID-19-Patienten keinen Nutzen einer intermediären Antikoagulation hinsichtlich eines primären Endpunkts aus VTE, arteriellen Thrombosen, ECMO-Pflichtigkeit oder Tod gegeben, dafür deutlich mehr Blutungen.
Zum Jahreswechsel 2020/21 wurde dann das multinationale Plattformstudienprogramm REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a abgebrochen, genauer jener Arm der Studie, der die Vollantikoagulation bei intensivpflichtigen Patienten untersuchte. Die Patienten mit Vollantikoagulation hatten eindeutige Nachteile, seither gilt die pauschale Vollantikoagulation bei intensivpflichtigen COVID-19-Patienten als nicht mehr state-of-the-art. Die Entscheidung fällt jetzt individuell nach den bei anderen Patienten mit schweren Infektionserkrankungen auch üblichen Kriterien.
Jetzt Ergebnisse offiziell publiziert
Das New England Journal of Medicine hat jetzt auch „offiziell“ die Ergebnisse des Intensivstation-Arms der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a-Studien publiziert. Bei Vollantikoagulation hatten die 1.098 auswertbaren Patienten bis Tag 21 nach Randomisierung im Median nur einen Tag ohne Organersatz („organ-support free days“), bei reiner Thromboseprophylaxe waren es immerhin vier Tage. Das entsprach einer Odds Ratio von 0,83 (95%-KI: 0,67-1,03), und einer Wahrscheinlichkeit von 99,9%, dass die Vollantikoagulationen keinen Nutzen bringt bzw. einer Wahrscheinlichkeit von 95%, dass sie der Thromboseprophylaxe unterlegen ist. Auch das Überleben war bei reiner Thromboseprophylaxe mit 62,7% vs. 64,5% im Trend besser, und schwere Blutungen waren mit 2,3% vs. 3,8% klar seltener.
Frühstationär hat therapeutische Antikoagulation eventuell Vorteile
Noch nicht im Detail bekannt waren bisher die Ergebnisse des zweiten Arms der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a-Studien, der auf (stationäre) COVID-19-Patienten in frühen bzw. moderaten Stadien fokussierte. Konkret ging es um jene, die zum Zeitpunkt der Randomisierung noch keinen Organersatz benötigten, damit typischerweise nicht auf Intensivstation lagen.
Auch zu diesem Studienarm mit 2.219 Patienten liegen die Daten jetzt vor, und sie sehen erwartungsgemäß etwas besser aus. Auch dieser Studienarm wurde gestoppt, in diesem Fall wegen Hinweisen auf eine Überlegenheit der Antikoagulation.
Der primäre Endpunkt, Tage ohne Organersatz bis Tag 21 nach Randomisierung, betrug bei Vollantikoagulation im Median in beiden Gruppen 22 Tage. Weil das keinen sinnvollen Vergleich erlaubt, wurde der Anteil der Patienten ohne Organersatz bis Entlassung berechnet. Das war bei 80,2% der vollantikoagulierten Patienten der Fall, gegenüber 76,4% der Patienten mit Thromboseprophylaxe. Dieser Unterschied war signifikant, mit einer Wahrscheinlichkeit für Überlegenheit der Vollantikoagulation von 98,6%. Deutlicher war der Unterschied dabei in der Subgruppe der Patienten mit hohen D-Dimeren, allerdings war der Unterschied nicht riesig.
Der Preis für den Vorteil waren auch hier schwere Blutungen bei immerhin gut jedem fünfzigsten Patienten (1,9%), gegenüber gut jedem hundertsten (0,9%) bei reiner Thromboseprophylaxe.
Eindeutig sind die Daten bei den frühen Patienten noch nicht
In einem begleitenden Editorial diskutiert Prof. Dr. Hugo ten Cate vom Thrombosezentrum der Universitäten Maastricht und Mainz dieses Ergebnis. Prinzipiell könnte der Unterschied je nach Schwere der Erkrankung dadurch erklärbar sein, dass die „frühen“ Patienten möglicherweise weniger thrombotische und inflammatorische Gefäßschäden aufwiesen. Mit anderem Worten: Sie wären in einem Stadium der Erkrankung, in dem hochdosiertes Heparin noch wirksam ist.
Das ist aber eine Hypothese, den abschließenden Beweis liefern die bisherigen Studien eher noch nicht. Zum einen gibt es die bisher nur als Preprint veröffentlichte RAPID-Studie bei einem ähnlichen, frühen Patientenkollektiv, die bei allerdings nur 465 Patienten im primären Endpunkt keinen Vorteil für die Vollantikoagulation fand. Zum anderen sind die Ergebnisse der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a Studien angreifbar. Ten Cate weist in seinem Editorial darauf hin, dass die auf schwer kranke COVID-19-Patienten fokussierende REMAP-CAP-Teilstudie vor allem in Großbritannien, die beiden auf leichter kranke Patienten fokussierenden ATTACC- und ACTIV-4a Studie dagegen in den USA und Brasilien rekrutierten. Der Unterschied des therapeutischen Nutzens könnte also auch mit zum Beispiel einer anderen ethnischen Zusammensetzung des Studienkollektivs zusammenhängen.
Praktische Konsequenzen?
Was die praktischen Konsequenzen der REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a Studien angeht, ist ten Cate deswegen auch etwas vorsichtig. Klar sei, dass die bisherige Evidenz eine pauschale therapeutische Antikoagulation bei schwerkranken COVID-19-Patienten nicht rechtfertige. Bei den leicht bis moderat erkrankten Patienten kann man es sich nicht ganz so leicht machen. Ten Cate plädiert auch nach REMAP-CAP/ATTACC/ACTIV-4a für eine individuelle Abwägung unter Einbeziehung des jeweiligen Blutungsrisikos.
Literatur
Ten Cate H. Surviving Covid-19 with Heparin? N Engl J Med 2021; DOI: 10.1056/NEJMe2111151
The REMAP-CAP, ACTIV-4a, and ATTACC Investigators. Therapeutic Anticoagulation with Heparin in Critically Ill Patients with COVID-19. N Engl J Med 2021; DOI: 10.1056/NEJMoa2103417
The ATTACC, ACTIV-4a, and REMAP-CAP Investigators. Therapeutic Anticoagulation with Heparin in Noncritically Ill Patients with COVID-19. N Engl J Med 2021; DOI: 10.1056/NEJMoa2105911