Mehr Herz-Kreislauf-Tote während Lockdown in Hessen
Der erste Lockdown hatte einen Anstieg der kardiovaskulären Sterblichkeit in Hessen zufolge. Die Studienautoren appellieren deshalb, auf nationaler Ebene Maßnahmen zu ergreifen, damit Menschen mit Beschwerden rechtzeitig Hilfe bekommen.
Der erste „strickte“ Lockdown in Deutschland hatte wahrscheinlich unabhängig von SARS-CoV-2 zu einem Anstieg der kardiovaskulären und kardialen Sterblichkeit geführt.
Aktuelle Ergebnisse der CoVCAD-Studie mit Erstautor Prof. Holger Nef, Universitätsklinik Gießen, belegen, dass zwischen dem 23. März und 26. April 2020 im Bundesland Hessen 7,6% mehr Menschen an einer Herz-Kreislauf-Komplikation verstorben sind als im selben Zeitraum des Vorjahres (p=0,02), die kardiale Sterblichkeit war um 11,8% höher (p ˂0,001).
In derselben Zeit verzeichneten die insgesamt 26 beteiligten Kliniken einen starken Rückgang an Kathetereingriffen: 35% weniger solcher Prozeduren wurden vorgenommen als im Vorjahr.
Patienten kamen wahrscheinlich zu spät in die Klinik
Über die Ursachen dieser Beobachtungen können die Autoren nur spekulieren. „Wenn man die intrahospitale Mortalität von Patienten vergleicht, die wegen einer kardialen Katheterisierung ins Krankenhaus eingeliefert wurden, ergibt sich ein Anstieg für das Jahr 2020, was darauf hindeutet, dass die Patienten möglicherweise zu spät in die Klinik kamen“, diskutieren die Kardiologen eine mögliche Ursache. Diese Ergebnisse deckten sich mit anderen Berichten aus der Literatur, in denen Komplikationen eines Herzinfarktes wegen zu späten Eintreffens der Patienten häufiger zu beobachten waren.
Die Autoren vermuten deshalb, dass die Angst vor COVID-19 – obwohl diese gerechtfertigt sei – in diesem Falle zu einem Anstieg einer Nicht-COVID-bedingten Morbidität und Mortalität geführt hat, weil die Patienten den Kontakt zum Gesundheitssystem vermieden haben.
Restriktiver Einsatz von Ressourcen blieb womöglich nicht folgenlos
Neben der generellen Furcht vor dem Virus und der offiziellen Order, möglichst zuhause zu bleiben, könnten ihrer Ansicht nach auch Überlastungen in ambulanten Versorgungsstrukturen dazu beigetragen haben, dass Patienten verzögert eine kardialen Behandlung erhalten haben. Und zu guter Letzt kam dringend benötigte medizinische Hilfe womöglich wegen des Verschiebens vermeintlich elektiver Prozeduren in manchen Fällen zu spät.
„Die allgemeinen Empfehlungen, während des Lockdowns zur Zeiten der COVID-19-Pandemie im Jahr 2020 elektive kardiale Eingriffe zu verschieben, um Ressourcen zu erhalten (einschließlich Schutzausrüstung und Krankenhausbetten) führte zu einer restriktiven Einstellung gegenüber dem Einsatz des hochentwickelten Gesundheitssystems in Mitteldeutschland“, erläutern Nef und Kollegen ihre Vermutung. Dies wiederum habe zur Folge gehabt, dass Einweisungen wegen elektiver kardialer Kathetereingriffe und, noch viel kritischer, Einweisungen wegen akuter Koronarsyndrome zurückgegangen seien.
„Hürde zur kardiovaskulären Versorgung muss niedrig bleiben“
Mit Blick auf die aktuelle Situation fordern Nef und Kollegen deshalb, auf nationaler Ebene Maßnahmen zu ergreifen, damit Patienten mit hohen kardiovaskulären Risiken auch in der Pandemie-Situation medizinische Hilfe beanspruchen, wenn Beschwerden auftreten. Die Daten verdeutlichen, wie wichtig es sei, die Hürden zur kardiovaskulären Versorgung während einer solchen Pandemie niedrig zu halten, resümieren die Kardiologen.
Gesamtsterblichkeit leicht, aber nicht-signifikant angestiegen
Die Gesamtsterblichkeit während des März/April-Lockdowns in Hessen ist leicht, aber nicht-signifikant um 2,6% im Vergleich zum Vorjahr angestiegen (p=0,16), hauptsächlich begründet durch die absolute Zahl an COVID-19-bedingten Todesfällen.
Seltsamerweise wurden in dieser Zeit allerdings weniger Todesfälle in Folge eines Schlaganfalls dokumentiert. Dies könne möglicherweise dadurch erklärt werden, dass Schlaganfälle während des Lockdowns falsch oder gar nicht diagnostiziert worden sind, erläutern Nef und Kollegen einen möglichen Grund für diese Beobachtung. Auch Todesfälle aufgrund von anderen Ursachen sind zurückgegangen. Die Autoren führen dies auf den in dieser Zeit zu beobachtenden Rückgang an Verkehrsunfällen und Kriminalität zurück.
Literatur
Nef HM et al. Impact of the COVID-19 pandemic on cardiovascular mortality and catherization activity during the lockdown in central Germany: an observational study. Clin Res Cardiol 2020, DOI: https://doi.org/10.1007/s00392-020-01780-0