Warum sterben in Italien so viele Menschen an COVID-19?
In Italien ist die Sterberate durch COVID-19 deutlich höher als beispielsweise in Deutschland. Weltweit suchen Wissenschaftler nach Erklärungen für diese extremen Diskrepanzen.
Das neue Coronavirus bietet viel Raum für Spekulationen, vieles ist unklar, wenig bisher wissenschaftlich tatsächlich gesichert. Eine derzeit auch in der Laienpresse intensiv diskutierte Frage ist: Warum sterben in Italien verhältnismäßig so viel mehr Menschen an der Virusinfektion als beispielsweise in Deutschland oder auch in China?
Mit dieser Frage haben sich nun drei italienische Wissenschaftler in der Fachzeitschrift „JAMA“ auseinandergesetzt. Ihr Datensatz geht auf die bis zum 17. März 2020 gemeldeten SARS-CoV-2-Fälle zurück.
Sterberate in Italien fast 10%
Demzufolge liegt die COVID-19-Sterblichkeitsrate in der italienischen Bevölkerung bei 7,2% (1.625 Todesfälle/22.512 Infektionen). In China liegt diese dagegen bei nur 2,3%.
Zum aktuellen Zeitpunkt (Stand: 25. März 2020, 8:00 Uhr) gibt es laut den Zahlen der Johns Hopkins University insgesamt 69.176 gemeldete SARS-CoV-2-Infektionen in Italien, 6.820 Menschen sind daran gestorben. Das würde einer Letalität durch COVID-19 von knapp 9,9% entsprechen. Im Vergleich dazu liegt die Sterberate in Deutschland mit aktuell 32.991 Infektionen und 159 Todesfällen bei gerade mal knapp 0,5%.
3 mögliche Erklärungen
Für diese extremen Diskrepanzen haben die italienischen Wissenschaftler um Prof. Graziano Onder aus Rom drei Erklärungen:
- Die demografischen Charakteristika der italienischen Bevölkerung würden sich von denen anderer Länder unterscheiden, führen die Autoren als mögliche Ursache an. So waren 2019 etwa 23% der Italiener 65 Jahre alt oder älter. Und im Vergleich zu beispielsweise China sind in Italien besonders viele ältere Menschen von COVID-19 betroffen: 37,6% der bis zum 17. März 2020 infizierten Italiener waren 70 Jahre alt oder älter, in China traf das nur auf 11,9% der Fälle zu (Stand: 11. Februar 2020). In Deutschland sind laut Robert-Koch-Institut (RKI) aktuell knapp 19% der infizierten Personen über 60 Jahre alt (Stand: 24. März 2020).
Stratifiziert nach Alter ergeben die Sterberaten in den Altersgruppen der 0- bis 69-Jährigen in Italien und China letztlich ein sehr ähnliches Bild (zwischen 0% und 3,6%). In der Altersgruppe der ≥ 80-Jährigen ist die Letalität in Italien dagegen mit 20,2% deutlich höher als in China mit 14,8%. Dies könnte nach Ansicht der italienischen Autoren daran liegen, dass in Italien eine relevante Anzahl an ≥ 90-Jährigen infiziert worden ist (n=678, Stand: 17. März 2020), deren Mortalität mit 22,7% besonders hoch ist. Diese Fälle werden in der Statistik der Altersgruppe der ≥ 80-Jährigen zugerechnet. In China hingegen seien die Fallzahlen speziell für die Altersgruppe der ≥ 90-Jährigen nicht berichtet worden. - Als weiteren Grund für die vergleichsweise hohe Sterberate in Italien führen die Autoren die international unterschiedlich verwendete Definition von COVID-19-bedingten Todesfällen an. Wenn eine Person via RT-PCR positiv auf SARS-CoV-2 getestet werde und sterbe, zähle das in Italien als COVID-19-bedingter Todesfall, erläutern sie – und zwar auch dann, wenn eine vorliegende Grunderkrankung womöglich die eigentliche Todesursache darstelle. Fast die Hälfte aller Personen, die vermeintlich an COVID-19 verstarben, litt an mindestens drei Grunderkrankungen (48,5%), vielen waren kardiovaskulär vorerkrankt (mehr dazu lesen Sie in diesem Beitrag). Diese hohe Komorbidität habe womöglich unabhängig von der Virusinfektion zu einer Erhöhung des Sterberisikos beigetragen, vermuten die Autoren.
- Zu guter Letzt nehmen die Wissenschaftler an, dass sich die zwischen den Ländern unterscheidenden Teststrategien auf die Todesstatistiken auswirken. Seit dem 25. Februar 2020 handhabt das italienische Gesundheitsministerium die Empfehlungen zur SARS-CoV-2-Testung deutlich restriktiver: Die Tests sollten vorrangig bei Personen mit COVID-19-Verdacht zum Einsatz kommen, die schwere Symptome zeigen und in eine Klinik eingewiesen werden müssen. Somit würden Patienten mit milden Verläufen – also jene mit einer geringen Sterblichkeit – nicht mehr in den Nenner einfließen, erläutern die Autoren. Die gegenteilige Strategie verfolgt Südkorea, wo weite Teile der Bevölkerung auf SARS-CoV-2 getestet werden. Dies führt nach Ansicht der italienischen Wissenschaftler vielleicht dazu, dass in Südkorea viele milde Fälle identifiziert werden, die in Italien erst gar nicht getestet worden wären, und deshalb die Sterberate dort mit 1% so viel niedriger ist.
Weitere Hypothesen
Wegen dieser zahlreichen Unklarheiten fordern Prof. Graziano Onder und seine beiden Kollegen mehr Transparenz bzgl. der Meldeverfahren der Fallzahlen, der Testpolitik und der klinischen Charakteristika der Fälle, um eine Vergleichbarkeit der Mortalitätsraten zwischen den jeweiligen Ländern überhaupt anstellen zu können.
Indes werden im Netz und von anderen Experten weitere Theorien aufgestellt, welche die vergleichsweise hohe COVID-19-Sterblichkeit in Italien zu erklären versuchen.
Viele Kontakte zwischen jung und alt
So führen die beiden Wirtschaftswissenschaftler Prof. Christian Bayer und Prof. Moritz Kuhn von der Universität Bonn die hohe Infektionszahlen in der älteren italienischen Bevölkerung auf die in diesem Land üblichen zahlreichen generationsübergreifenden Kontakten zurück. In Italien leben unterschiedliche Generationen häufiger in einem Haushalt zusammen als beispielsweise in Deutschland, weshalb sich das Virus dort initial schneller unter älteren Personen verbreitet haben könnte.
Dafür spricht nach Ansicht von Bayer und Kuhn die zu beobachtende Korrelation zwischen den initialen Sterberaten durch COVID-19 und der generationsübergreifenden Interaktionshäufigkeit bzw. der Häufigkeit eines Zusammenlebens von 30- bis 49-Jährigen mit ihren Eltern. Dieser Zusammenhang scheint allerdings nur auf europäische Länder, die USA, Australien und dem Iran, nicht aber auf asiatische Länder wie z.B. Südkorea (geringe Sterblichkeit trotz hoher Kontakthäufigkeit) zuzutreffen.
Sobald das Virus auch die ältere Generation erreiche, könne sich dieses dort ebenfalls verbreiten, was für Länder mit initial niedrigen Sterberaten wie Deutschland ein Warnsignal seien sollte, machen die beiden Wissenschaftler deutlich.
Italienisches Gesundheitssystem quasi „überrollt“
Ein Bericht im „New England Journal of Medicine“ von Ärzten des Krankenhauses Papa Giovanni XXIII lässt indes erahnen, in welchem Zustand sich die Kliniken in Norditalien derzeit befinden: „Unsere Klinik ist stark kontaminiert“, berichten sie. Man habe lernen müssen, dass Krankenhäuser die „Hauptträger“ des Virus sein könnten, „da sie schnell von infizierten Patienten besiedelt werden und die Übertragung auf nicht infizierte Personen erleichtern“. In noch schlechteren Zuständen befänden sich Kliniken in der näheren Umgebung: Es fehle an Schutzausrüstung, Beatmungsgeräten und Medikamenten. „Ältere Patienten werden nicht wiederbelebt und sterben ohne angemessene Palliativversorgung“, beklagen die Ärzte.
Im „Lancet“ bekräftigen Kardiologen um Andrea Saglietto aus Turin, dass der rapide Anstieg an COVID-19-Fällen für das italienische Gesundheitssystem aufgrund seiner limitierten Intensivkapazitäten zur ernsten Bedrohung geworden ist. In Deutschland wiederum sind die Infektionszahlen mit einer gewissen Verzögerung zu Italien in die Höhe geschnellt. Hierzulande wurden in der Zwischenzeit Intensivkapazitäten aufgestockt. Aktuelle Verfügbarkeiten werden von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI) in einem neu initiierten Register laufend aktualisiert (https://www.divi.de/register/kartenansicht).
Literatur
Onder G, Rezza G, Brusaferro S. Case-Fatality Rate and Characteristics of Patients Dying in Relation to COVID-19 in Italy. JAMA. Published online March 23, 2020. doi:10.1001/jama.2020.4683
Bayer C, Kuhn M. Intergenerational ties and case fatality rates: A cross-country analysis, https://voxeu.org/article/intergenerational-ties-and-case-fatality-rates, veröffentlicht am 20.März 2020
Nacoti M et al. At the Epicenter of the Covid-19 Pandemic and Humanitarian Crises in Italy: Changing Perspectives on Preparation and Mitigation. NEJM Catalyst, online March 21, 2020; doi: 10.1056/CAT.20.0080
Saglietto A et al. COVID-19 in Europe: the Italian lesson. The Lancet, online March 24; doi: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30690-5