Long Covid: Wie häufig sind Organschäden schuld?
Noch immer ist unklar, was genau hinter „Long Covid“ steckt. Ärzte aus Ulm haben deshalb systematisch nach Organschäden gefahndet – und haben recht häufig eine Diskrepanz zwischen Beschwerden und pathologischen Befunden feststellen können.
Viele Menschen leiden noch Monate nach einer SARS-CoV-2-Infektion an Beschwerden, oft äußern sich diese diffus und betreffen unterschiedlichste Körperregionen. Dieser Symptomkomplex wird gemeinhin als „Long Covid“ bezeichnet. Doch noch immer ist wenig über die zugrunde liegenden Ursachen bekannt: Sind durch die Infektion verursachte, anhaltende Organschäden dafür verantwortlich, eine Inflammation oder residuelle Gefäßschädigungen?
Diagnostik in drei Stufen
In einer Spezialambulanz für Covid-Spätfolgen an der Uniklinik Ulm ist man dieser Frage im Rahmen eines Forschungsprojektes auf dem Grund gegangen. Insgesamt 231 Long-Covid-Patienten wurden hierfür systematisch untersucht, am häufigsten litten diese an Kurzatmigkeit, Brustschmerz, Fatigue sowie Gedächtnis- und Konzentrationsproblemen. Erstautor Dr. Johannes Kersten hat die Ergebnisse dieser Untersuchungen bei den diesjährigen DGK-Herztagen vorgestellt.
Wie der Kardiologe berichtete, sind sie bei der Diagnostik in mehreren Stufen vorgegangen:
- Stufe 1: Im ersten Schritt wurden die Patienten mittels Ruhe-EKG, Blutuntersuchungen inkl. kardialer Biomarker wie Troponin und NT-proBNP, transthorakaler Echokardiografie (TTE), Bodyplethysmografie, kapillärer Blutgasanalyse und Sechs-Minuten-Gehtest untersucht.
- Stufe 2: Bei all denjenigen, bei denen in Stufe 1 Auffälligkeiten nachgewiesen wurden, inkl. solcher mit schwerwiegender Beschwerden, wurde im Anschluss eine Kardio-MRT und Spiroergometrie vorgenommen.
- Stufe 3: In Abhängigkeit der Befunde und Symptome wurden die Patienten auf individueller Ebene an andere Fachdisziplinen zur weiteren Abklärung überwiesen, etwa zur Pneumologie für eine Bronchoskopie, zur Neurologie oder Psychiatrie.
Zeichen einer abgelaufenen oder anhaltenden Myokarditis
In der ersten Stufe konnten Kersten und Kollegen bei insgesamt 80 Patienten Auffälligkeiten feststellen. Die meisten wiesen, wie Kersten bei den Herztagen berichtete, Veränderungen in der Bodyplethysmografie wie eine einschränkte Diffusionskapazität für Kohlenmonoxid oder ein gesteigertes Residualvolumen auf. Ebenfalls häufig war eine Entsättigung im Sechs-Minuten-Gehtest. Seltener waren dagegen auffällige Befunde in der TTE wie eine eingeschränkte linksventrikuläre Funktion (LVEF) ˂ 55% oder LV Global Longitudinal Strain (GLS) > –15% (bei 9,5%). Sehr wenige hätten erhöhte Troponin- oder NT-proBNP-Werte aufgewiesen, berichtete Kersten.
Letztlich konnten nur bei 36 von diesen 80 Patienten alle Untersuchungen der Stufe 2 abgeschlossen werden. Definitive Organschäden ließen sich dabei bei 16 Patienten nachweisen, bei 10 waren diese kardialer Natur. „Zum Beispiel Anzeichen einer abgelaufenen oder anhaltenden Myokarditis“, wie Kersten ausführte. Die restlichen hätten pulmonale Einschränkungen oder überlappende Befunde aufgewiesen, z.B. Zeichen eines pathologischen Ventilationsmusters in der Spiroergometrie.
Diskrepanz zwischen Beschwerden und Organbefunden
Hochgerechnet auf die Gesamtkohorte schätzt Kersten, dass bei circa 15,4% der Long-Covid-Patienten kardiale oder pulmonale Veränderungen zu finden sind, die zumindest potenziell auf die initiale COVID-19-Erkrankung zurückzuführen sind. „Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass bei 84,6% keine pathologischen Veränderungen zu finden sind“, so der Kardiologe. Und das obwohl die Patienten zum Teil hochsymptomatisch gewesen seien. Es sei somit eine Diskrepanz zwischen der Symptomatik und dem tatsächlichen Vorkommen von Organschäden in der erweiterten Diagnostik feststellbar, weisen die Autoren in der zeitgleich veröffentlichten Publikation hin. Die Ulmer Ärzte haben für solche Beschwerden die Bezeichnung „funktionelles Long-COVID“ eingeführt.
Prinzipiell äußerte sich die Long-Covid-Symptomatik im Übrigen unabhängig von der anfänglichen durch die SARS-CoV-2 verursachten Erkrankungsschwere. Gerade mal 7,8% der untersuchten Patienten mussten wegen ihrer COVID-19-Erkrankung in einem Krankenhaus behandelt werden, 14,7% hatten nur wenige bis gar keine Beschwerden gehabt. Im Schnitt waren vier Monate zwischen der Infektion und der Long-Covid-Abklärung vergangen. Das mittlere Alter der Patienten betrug 47,8 Jahre.
Somatische Ursachen ausschließen
Doch wenn es keine Organveränderungen sind, was steckt dann hinter den Beschwerden und was kann man gegen diese tun? Kersten kann darauf aktuell keine abschließende Antwort geben, weist aber auf den Einfluss diverser Einflussfaktoren hin. Es kämen etwa Patienten in die Ambulanz, die depressive Erkrankungen in der Vorgeschichte hätten und deren Symptomatik sich durch Quarantäne, Lockdown usw. aggraviert hätte. Wie der Kardiologe betont, ist es in solchen Fällen wichtig, somatische Ursachen auszuschließen, um den Patienten diesbezügliche Gewissheit zu geben. Finden sich keine pathologischen Befunde, sollten die Patienten zur psychosomatischen Abklärung in andere Fachabteilungen überwiesen werden.
Eine Rolle könnte laut Kersten auch ein andauernder Bewegungsmangel spielen. Viele Patienten hätten seit Monaten kein Sport mehr ausgeübt, weil das Fitnessstudie geschlossen war, die Laufgruppe ausgefallen ist usw. In ihrer Ambulanz werde deshalb bei Patienten mit unauffälliger Diagnostik eine klare Empfehlung zur sportlichen Bestätigung ausgesprochen.
Mehr Aufschluss über die zugrunde liegenden Ursachen erhoffen sich die Ulmer Mediziner nun von den bald abgeschlossenen Follow-up-Untersuchungen einer größeren Kohorte mit insgesamt 560 Patienten.
Literatur
Kersten J: Analyse einer großen Long COVID Kohorte: Die diagnostische Unterscheidung zwischen Organschaden und Konditionsverlust, DGK Herztage, 30. September bis 2. Oktober 2021, Bonn
Kersten, J et al. Long COVID: Distinction between Organ Damage and Deconditioning. J. Clin. Med. 2021, 10, 3782. https://doi.org/10.3390/jcm10173782