Bestimmte COVID-19-Patienten profitieren von verlängerter Thromboseprophylaxe
Eine noch ungeklärte Frage im Management von COVID-19-Patienten: Sollte man eine Thromboseprophylaxe über den Krankenhausaufenthalt hinaus verordnen? Eine randomisierte Studie spricht dafür – zumindest unter gewissen Voraussetzungen.
Schwer erkrankte COVID-19-Patienten mit einem hohen Thromboserisiko profitieren offenbar von einer verlängerten Thromboseprophylaxe. In der beim ESC-Kongress präsentierten, randomisierten MICHELLE-Studie jedenfalls hatten solche Patienten, die über den Krankenhausaufenthalt hinaus mit Rivaroxaban 10 mg/Tag behandelt wurden, einen deutlich günstigeren Krankheitsverlauf als Patienten ohne verlängerte Thrombosepropyhlaxe.
„Wir glauben, dass die Schutzwirkung echt ist“
Studienautor Prof. Eduardo Ramacciotti zeigte sich beim ESC überzeugt von der Aussagekraft dieses Ergebnisses: „Wir glauben, dass der protektive Effekt der Antikoagulation nach der Hospitalisierung echt ist, trotz der Tatsache, dass die Stichprobengröße so klein gewesen war“, sagte der in São Paulo tätige Mediziner.
„Klein“ heißt in diesem Falle eine Patientenzahl von 320, die im Rahmen der brasilianischen MICHELLE-Studie randomisiert worden ist: Entweder erhielten die COVID-19-Patienten nach der Klinikentlassung eine verlängerte Prophylaxe mit Rivaroxaban 10 mg/Tag oder keine Antikoagulation. 35 Tage nach Entlassung plus/minus 4 Tage wurde bei allen Patienten eine venöse Duplexsonografie und eine CT-Angiografie der Pulmonalarterien vorgenommen.
Kriterien für hohes VTE-Risiko
Voraussetzung für den Einschluss in die Studie war nicht nur ein mind. dreitägiger Krankenhausaufenthalt wegen einer SARS-CoV-2-Infektion, sondern auch ein hohes Thromboserisiko. Zur Beurteilung des Risikos setzen die brasilianischen Studienautoren einen speziellen Score ein: IMPROVE, der sich aus folgenden Faktoren zusammensetzt:
- zurückliegende venöse Thromboembolie (VTE) (3 Punkte),
- bekannte Thrombophilie (2 Punkte),
- Paralyse in den unteren Gliedmaßen (2 Punkte),
- positive Tumoranamnese (2 Punkte),
- Immobilisierung ≥ 1 Tag (1 Punkt),
- ICU/CCU-Aufenthalt (1 Punkt),
- Alter > 60 Jahre (1 Punkt),
- D-Dimer ≥ 2× oberen Grenzwert (2 Punkte).
≥ 4 Punkte oder 2 bis 3 Punkte im Score plus ein D-Dimer-Spiegel > 500 ng/ml während des Krankenhausaufenthaltes mussten die Patienten vorweisen. Etwa die Hälfte der letztlich berücksichtigten Studienpatienten waren auf Intensivstation (ICU) oder einer „Critical Care Unit (CCU) gelegen. Sie seien also sehr krank gewesen, berichtete Ramacciotti. Kürzlich zurückliegende oder aktive Blutungsrisiken mussten ausgeschlossen sein.
Risiko für primären Endpunkt deutlich reduziert
Unter diesen Voraussetzungen wirkte sich die verlängerte Rivaroxaban-Behandlung tatsächlich positiv auf die Prognose der Patienten aus. So traten Ereignisse des kombinierten primären Endpunktes bei den damit behandelten Patienten während der kommenden 35 Tage nach Klinikentlassung signifikant seltener auf als bei Patienten ohne Antikoagulation. Unter dem primären Endpunkt waren symptomatische VTE, VTE-verursachte Todesfälle, VTE-Nachweise in der venösen Duplexsonografie oder in der CT-Angiografie der Pulmonalarterien, symptomatische arterielle Thromboembolien, Herzinfarkte, nicht hämorrhagische Schlaganfälle, schwerwiegende Extremitätenereignisse sowie kardiovaskuläre Todesfälle zusammengefasst; dazu kam es bei 9,43% in der Kontroll- vs. 3,14% in der Rivaroxaban-Gruppe. Das entspricht einer relativen Risikoreduktion von 67% (RR: 0,33; p=0,03) und einer Number Needed to Treat von 16.
Schwerwiegende Blutungen gab es in keiner der beiden Studienarme. Die Ergebnisse waren konsistent in allen Subgruppen.
Aber: Wie relevant waren die Ereignisse?
Im Anschluss an die Studienpräsentation sprach der Vorsitzende der ESC-Session, Dr. Jean-Claude Tardif, den sehr weit gefassten primären Endpunkt der Studie an. Darin seien klinische Ereignisse wie Bildgebungsmarker enthalten, registrierte der Kardiologe aus Montreal etwas verwundert, und richtete an Ramacciotti die Frage, wie viele der aufgetretenen Ereignisse tatsächlich klinisch relevant gewesen waren. „Zwei Drittel der Ereignisse in der Kontrollgruppe waren symptomatische“, machte Ramacciotti deutlich. In der aktiven Rivaroxaban-Gruppe seien es ein Drittel gewesen, fügte er zum Vergleich hinzu. Wie der brasilianische Wissenschaftler ausführte, ist der Unterschied im primären Endpunkt vor allem durch Lungenembolien hervorgerufen worden. In der Kontrollgruppe habe es drei Todesfälle wegen Lungenembolien gegeben, berichtete er.
Literatur
Ramacciotti E: The Michelle trial: Medically Ill hospitalized Patients for COVID-19 THrombosis Extended ProphyLaxis with rivaroxaban ThErapy, Late Breaking Trials - COVID-19, ESC Congress 2021 – The Digital Experience, 27. bis 30. August 2021