Ischämische Kardiomyopathie: Ist eine Revaskularisation wirklich von Vorteil?

Viele Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie werden heute einer koronaren Revaskularisation unterzogen. Die wissenschaftliche Evidenz für deren Nutzen ist allerdings nach Ansicht von Experten derzeit sehr begrenzt.

Von Peter Overbeck

 

13.10.2021

„Verstörende Diskordanz zwischen Praxis und Evidenz“

Für Patienten mit ischämischer Kardiomypathie – d.h. mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion (Auswurffraktion <35–40%, mit oder ohne Herzinsuffizienz-Symptome) auf Basis eines relativ ausgedehnten koronaren Atherosklerose-Befalls – scheint eine Revaskularisation intuitiv die richtige Therapie zu sein.

 

Durch Wiederherstellung eines normalen koronaren Blutflusses – sei es durch Bypass-OP oder perkutane Koronarintervention (PCI) – werde, so die Vorstellung, ischämisch geschädigtes, aber noch vitales Myokardgewebe vor dem irreversiblen Untergang bewahrt. Das führe zur Verbesserung der kontraktilen Herzfunktion und schließlich auch der Gesamtprognose.

Drei internationale Experten – Dr. Raffaele de Caterina und Dr. Ricardo Liga vom Universitätsklinikum Pisa und Dr. William Boden von der University School of Medicine in Boston – haben jetzt die derzeitige Studienlage bezüglich der koronaren Revaskularisation bei Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie einmal genauer unter die Lupe genommen. Im Ergebnis ihrer unter der Rubrik „Viewpoint“ im „European Heart Journal“ publizierten Analyse konstatieren sie eine „verstörende Diskordanz (disturbing discordance) zwischen gegenwärtiger klinischer Praxis und wissenschaftlicher Evidenz“.

 

In den ESC-Leitlinien wird eine Myokardrevaskularisation mittels Bypass-OP oder PCI bei ischämischer Kardiomypathie im Fall einer geeigneten Koronaranatomie de facto empfohlen. Eine PCI sei dann in Betracht zu ziehen, wenn damit eine vollständige Revaskularisation erreichbar erscheine oder ein hohes Operationsrisiko bestehe.

PCI als Revaskularisationsmethode in der Praxis bevorzugt

„Real world“-Daten zeigten, dass sich im Praxisalltag mittlerweile die PCI als Revaskularisationsstrategie der Wahl bei ischämischer Kardiomyopathie etabliert habe, berichten de Caterina und seine Mitautoren. Das katheterbasierte Verfahren komme bei dieser Indikation heute nahezu dreimal häufiger zur Anwendung als die koronare Bypass-Operation. Für wissenschaftlich fundiert halten die drei Autoren diese Praxis aber nicht.

 

Zunächst gehen sie mit der häufig vertretenen Auffassung kritisch ins Gericht, wonach die Entscheidung für eine Revaskularisation bei ischämischer Kardiomyopathie auf dem per Bildgebung erbrachten Nachweis einer bestehenden Myokardischämie sowie der Vitalität des Myokardgewebes beruhen sollte. Nach Ansicht von de Caterina, Liga und Boden gibt die verfügbare wissenschaftliche Evidenz eine solche Empfehlung nicht her.

Ischämie- und Vitalitätsnachweis obsolet

Sie verweisen unter anderem auf Ergebnisse der STICH-Studie, denen zufolge die Mortalität bei koronarchirurgisch revaskularisierten Patienten mit und ohne Ischämienachweis nicht unterschiedlich war.  Auch in einer jüngst publizierten Subanalyse der ISCHEMIA-Studie, an der bekanntlich überwiegend Patienten mit erhaltener linksventrikulärer Funktion beteiligt waren, seien keine Anhaltspunkte für eine Interaktion zwischen dem Ausmaß der Myokardischämie und einer Prognoseverbesserung durch Revaskularisation gefunden worden.

 

Die Annahme, dass eine vom Ergebnis der myokardialen Vitalitätstestung geleitete Revaskularisation prognostisch von Vorteil sei, wird nach Einschätzung von de Caterina, Liga und Boden durch die vorliegenden prospektiven Studien ebenfalls nicht gestützt.

Keine randomisierten Studien zum Nutzen der PCI

Derzeit gibt es keine randomisierten kontrollierten Studien, die einen symptomatischen oder prognostischen Nutzen der PCI als Revaskularisationsmethode bei Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie belegen. Im Fall anhaltender Angina-pectoris-Beschwerden trotz medikamentöser Therapie sei eine Revaskularisation bei diesen Patienten eine „akzeptable Option“, so die „Viewpoint“-Autoren. Dabei können sie sich, wie sie selber einräumen, aber nur auf Daten zum symptomatischen Nutzen der PCI berufen, die aus Studien bei Patienten ohne schwere linksventrikuläre Dysfunktion stammen.

 

Nach Einschätzung von de Caterina und seinen Mitautoren sind bei Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie zumeist die Herzinsuffizienz-Symptome vorherrschend, weniger die pektanginösen Beschwerden. Der Krankheitsverlauf werde bei diesen Patienten stark von der linksventrikulären systolischen Dysfunktion und deren Konsequenzen und weniger von der Ischämie und damit einhergehenden Risiken dominiert.

 

Damit in Einklang stehe, dass Herzinsuffizienz-Therapien wie Sacubitril-Valsartan oder SGLT2-Hemmer die Prognose von Patienten mit ischämischer Kardiomyopathie in Studien deutlich verbesserten, während auf das „atherosklerotische Substrat“ zielende Therapien wie Statine hier nicht so überzeugend waren.

Bessere Datenlage im Hinblick auf die Bypass-OP

Daten aus randomisierten, kontrollierten Studien zum klinischen Nutzen bei ischämischer Kardiomyopathie liegen bislang nur für die koronarchirurgische Revaskularisation vor. Eine Prognoseverbesserung durch Bypass-OP bei Patienten mit schwerer linksventrikulärer Dysfunktion konnte etwa in der bereits in der 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gestarteten CASS-Studie nachgewiesen werden. Allerdings war die medikamentöse Therapie bei bypassoperierten Patienten zur damaligen Zeit im Vergleich zum heutigen Stand noch sehr limitiert.

 

Neueren Datums sind dagegen Langzeitdaten der STICH-Studie, in der die Bypass-Operation mit der bestmöglichen medikamentösen Therapie bei KHK-Patienten mit erniedrigter linksventrikulärer Auswurffraktion (≤35%) verglichen worden ist. Nach Ablauf der regulären Studiendauer (knapp fünf Jahre) waren die Mortalitätsraten in beiden Gruppen zunächst nicht signifikant unterschiedlich (41% vs. 38%, p=0,12). Am Ende einer darüber hinaus verlängerten Nachbeobachtung in der STICHES-Studie zeigte sich dann aber doch, dass die Bypass-Operation nach etwa zehn Jahren mit einer signifikant um 16% niedrigeren Mortalität assoziiert war (59% vs. 66%, p=0,02).

 

Da die Bypass-OP zumindest in der Frühphase nach der Operation mit einer höheren Mortalität einherging, wurde in der Folge die These aufgebracht, dass die PCI möglicherweise ein günstigeres Nutzen/Risiko-Profil aufweisen könnte.

 

De Caterina, Liga und Boden zeigen sich diesbezüglich skeptisch. Sie erinnern daran, dass PCI und Bypass-OP Unterschiede bezüglich der erreichbaren Revaskularisation aufweisen: Während bei der PCI primär fokale, flusslimitierende Stenosen im Fokus stünden, ermögliche die Anlage von Koronarbypässen vor allem bei ausgedehnter koronarer Atherosklerose eine umfassendere Revaskularisation. Bei Patienten mit Koronarerkrankung sei vor allem die „Atherosklerose-Last” (atherosclerotic burden) und weniger die Zahl der flusslimitierenden Läsionen eine „Schlüsseldeterminante“ für die Prognose.

 

Die drei Autoren verweisen in diesem Zusammenhang auf eine 2020 publizierte Metaanalyse (Gaudino M. et al.) von Daten aus 23 Studien, bei denen es sich allerdings überwiegend um Beobachtungsstudien handelte. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Bypass-Operation bei ischämischer linksventrikulärer Dysfunktion bezüglich der Mortalität Vorteile gegenüber der PCI zu bieten habe.

Erste randomisierte Studie zum Nutzen der PCI gestartet

Es liegt auf der Hand, dass zur weiteren Klärung randomisierte kontrollierte Studien dringend benötigt werden.  Britische Forscher haben mit einer REVIVED-BCIS2 benannten Studie eine solche Untersuchung auf den Weg gebracht. In dieser Studie soll bei rund 700 KHK-Patienten mit eingeschränkter linksventrikulärer Funktion (Auswurffraktion 35% oder niedriger) untersucht werden, ob eine PCI zusätzlich zur bestmöglichen Pharmakotherapie von additivem Nutzen ist.

 

Ein Studienarm mit Bypass-OP ist nicht vorgesehen. Nach Ansicht von de Caterina, Liga und Boden wird deshalb auch diese relativ kleine Studie keine definitiven Antworten auf alle wichtigen Fragen zur Revaskularisation bei ischämischer Kardiomyopathie liefern können. Die Ergebnisse könnten aber von Relevanz für das Management bei ausgewählten Patienten sein, die für eine Bypass-OP nicht geeignet seien.


Literatur

De Caterina R., Liga R., Boden M.: Myocardial revascularization in ischaemic cardiomyopathy: routine practice vs. scientific evidence. European Heart Journal 2021, online 11. Oktober.

Diese Seite teilen