Nachrichten 02.02.2017

Das Hin und Her bei den Blutdruck-Zielwerten

Was ist der optimale Blutdruckzielwert für ältere Hypertoniker? Experten sind sich darüber noch immer nicht einig. Das Ergebnis einer aktuellen Metaanalyse spricht für eine intensive Blutdrucksenkung unter 140 mmHg und steht damit im Gegensatz zu der erst kürzlich publizierten Empfehlung zweier US-Fachgesellschaften.

Der ein oder andere ist die Debatte vermutlich schon leid, die Frage nach dem optimalen Zielblutdruck bei älteren Hypertonikern. Reicht unter 150 mmHg oder sollte man besser die 140 mmHg oder gar 120 mmHg unterschreiten, um Schlaganfälle und andere kardiovaskulären Erkrankungen effektiv zu verhindern?

Erst gelockert, dann kam SPRINT

Diese Frage scheint zu einer „never ending story“ zu werden. So haben 2014 mehrere internationale Fachgesellschaften eine Lockerung der Zielwerte beschlossen. Diese Empfehlung blieb nicht ohne Kritik, und als dann 2015 die SPRINT-Studie den Vorteil einer noch strengeren Blutdrucksenkung – nämlich unter 120 mmHg – auch bei über 75-jährigen  Patienten belegt haben soll, sahen viele Experten einen Paradigmenwechsel in der Zielwertdebatte kommen.

Doch unzählige Kommentare, Diskussionen und Stellungnahmen später wird deutlich: Auch über die Interpretation der SPRINT-Ergebnisse – u. a. aufgrund der dort verwendeten Messmethode – ist man sich uneins, wie etwa auf der Tagung der Deutschen Hochdruckliga  im Dezember 2016 zu vernehmen war (http://www.kardiologie.org/kreislauferkrankungen/hochdruckliga-positioniert-sich-zur-sprint-studie/11248898).

Neue Metaanalyse mit vier randomisierten Studien

Die Debatte wird nun durch eine Metanalyse der Arbeitsgruppe um Chirag Bavishi von der University School of Medicine in New York weiter befeuert. Die Wissenschaftler haben vier ihrer Ansicht nach qualitativ hochwertige randomisierte Studien mit 10.857 über 65-jährigen Hypertonikern ausgewertet; darunter drei Studien aus dem asiatischen Raum (JATOS, VALISH und eine Studie von Wei et al.) sowie die SPRINT-Studie. In allen Arbeiten wurde die Effektivität und Sicherheit einer intensiven Blutdrucksenkung mit der einer Standardtherapie über einen mittleren Beobachtungszeitraum von 3,1 Jahren verglichen. Nach dem Ergebnis der im Journal of the American College of Cardiology (JACC) erschienenen Analyse scheint eine intensive Blutdrucksenkung auf unter 140 mmHg für ältere Hypertoniker einen Vorteil zu bringen.  

Erst Mitte Januar ist eine Metaanalyse samt Übersichtsarbeit der Arbeitsgruppe um Jessica Weiss zur selben Fragestellung erschienen. Hier kommen Weiss und Kollegen zu dem Schluss,  dass es eine „sehr starke Evidenz“ gibt, nach der eine Senkung eines erhöhten Blutdruckes (≥ 160 mmHg) bei über 60-jährigen Patienten auf einen Wert unter 150/90 mmHg die Mortalität, die Rate an Schlaganfällen und die Häufigkeit kardialer Ereignisse erheblich senken kann. Eine aggressivere Absenkung auf unter 140/85 mmHg wird dagegen nur für bestimmte Patienten, nämlich jene mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko, als wahrscheinlich vorteilhaft erachtet.

Neue US-Leitlinie setzt auf unter 150 mmHg

Diese Ergebnisse decken sich im Prinzip mit den aktuell gültigen gemeinsamen Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie und Hypertonie (ESC, ESH) sowie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und der Deutschen Hochdruckliga (ESH, DHL®) aus dem Jahr 2014. Darin wird für unter 80-jährige Patienten mit einem Blutdruck ≥160 mmHg ein Zielwert zwischen 140 und 150 mmHg angeraten.

Auf Basis der Arbeit von Weiss et al. haben zwei US-amerikanische Fachgesellschaften – das American College of Physicians (ACP) und die American Academy of Family Physicians (AAFP) – dann auch eine neue Leitlinie auf dem Weg gebracht. Empfohlen wird bei älteren Menschen im Alter von 60 Jahren oder älter mit einem Blutdruck von ≥160 mmHg, einen Wert von <150 mmHg anzustreben. Nur bei gewissen Patienten, etwa mit einem Schlaganfall in der Vorgeschichte, kann über einen Blutdruckzielwert unter 140 mmHg nachgedacht werden.

Hochdruckliga widerspricht

Doch auch diese Empfehlung stößt auf Widerspruch. So wird Prof. Bernhard Krämer, Direktor der V. Medizinischen Klinik an der Universitätsmedizin Mannheim und  Vorstandsvorsitzende der Hochdruckliga, in einer Pressemitteilung der Deutschen Hochdruckliga vom 24.01.2017 folgendermaßen zitiert: „Gerade die Mehrheit der über 60-jährigen habe ein erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden. ‚Daher sollte der Blutdruck gerade in dieser Altersgruppe auf mindestens unter 140 mmHg gesenkt werden‘“.

Augenscheinlich Rückenwind erhält der Einwand der Hochdruckliga von der nun im JACC publizierten Metaanalyse von Bavishi et al.. Hier reduzierte eine intensive Blutdruckkontrolle auf mindestens unter 140 mmHg im Vergleich zur Standardtherapie die Rate an schweren kardialen Ereignissen (MACE) um relativ 29% und die kardiovaskuläre Mortalität um 33%. Das Herzinsuffizienz-Risiko ging um 37% zurück. Und auch Herzinfarkte und Schlaganfälle kamen numerisch seltener vor (relatives Risiko: 0,80); dieser Unterschied war statistisch jedoch nicht signifikant. 

Schwere Nebenwirkungen wurden unter der intensivierten Therapie nicht beobachtet. In einer statistischen Auswertung ließ sich aber eine erhöhte Niereninsuffizienz-Rate bei den intensiv behandelten Hypertonikern nachweisen.

Doch unter 140 mmHg?

„Damit bestätigt diese Metaanalyse, dass eine intensive Blutdrucksenkung bei älteren Hypertonikern mit einem geringeren kardiovaskulären Risiko einhergeht“, resümieren Bavishi und Kollegen. Ihrer Ansicht nach spricht dieses Ergebnis für eine intensive Blutdrucksenkung auf unter 140 mmHg auch bei älteren Hypertonikern. Denn der kardiovaskuläre Schutz war umso höher, desto tiefer der systolische Blutdruck gesenkt wurde.

Zu einer generellen Empfehlung, auch bei älteren Hypertonikern den Druck unter 140 mmHg zu senken, können sich die Wissenschaftler jedoch nicht durchringen. 

„Ärzte und Patienten sollten sich bewusst sein, dass eine intensivierte Therapie auch Abstriche bedeutet“, schreiben sie im selben Zuge. Die absolute Risikoreduktion für MACE von 1,5%  geht auf der anderen Seite mit einer absoluten Risikoerhöhung für eine Niereninsuffizienz von 0,6 auf 1,1% einher. Die Patienten müssten mehr Medikamente nehmen, um die Ziele zu erreichen, was wiederum mehr Nebenwirkungen bedeuten könnte. Gerade im Hinblick auf die häufig bei älteren Menschen vorliegende Polypharmazie und Multimorbidität müsse man dies beachten.

Doch intensive Therapie bedeutet Abstriche

Darüber hinaus ist das Endergebnis der Metaanalyse hauptsächlich durch die Ergebnisse aus der SPRINT-Studie getrieben, wie George Bakris und Alexandros Briasoulis in einem begleitenden Editorial zu bedenken geben. In den Studien JATOS und VALISH unterschieden  sich die kardiovaskulären Ereignisraten zwischen der intensivierten Gruppe und der Standardgruppe nicht.

Die entscheidende Frage sei nun, ob man die SPRINT-Ergebnisse auf eine weiter gefasste Population von älteren Hypertonikern übertragen könne. Bekanntlich wurden in SPRINT Hypertoniker mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko eingeschlossen, aber keine Diabetiker und auch keine Schlaganfallpatienten.

SPRINT-Ergebnisse repräsentativ?  

Wenn man sich den 80-jährigen Großvater, der mit seinen Enkeln in den Bergen wandert, und auf der anderen Seite den 75-jährigen gebrechlichen Mann, der bereits im Pflegeheim lebt, vor Augen führt, ist die Antwort auf diese Frage eigentlich klar. So weisen auch die beiden Kommentatoren darauf hin, dass alte Menschen eine sehr heterogene Gruppe darstellen und gebrechliche Patienten in Studien unterrepräsentiert seien. „Die Studienteilnahme von hauptsächlich ‚gesunden‘, für ältere Menschen weniger repräsentativen Patienten kann zu einem Widerspruch zwischen der ‚evidenzbasierten Empfehlung‘ und dem ‚optimalen individualisierten‘ Vorgehen führen“, betonen sie.

Messmethode entscheidend  

Nicht außer Acht zu lassen ist zudem, dass die Höhe des gemessenen Blutdrucks von der jeweiligen Messmethode abhängt und diese sich in den einzelnen Studien unterschieden haben. Die unbeaufsichtigte automatische Blutdruckmessung in Ruhe, wie sie in SPRINT zur Anwendung kam, hat womöglich zu niedrigeren Blutdruckwerten geführt, als sie üblicherweise in der Praxis gemessen werden. Nicht wenige Experten, u. a. auch aus der Hochdruckliga, sind daher der Ansicht, dass die Vergleichbarkeit der SPRINT-Ergebnisse nur eingeschränkt gegeben ist und die Zielwerte daher nicht geändert werden sollten.

Individualisiert Vorgehen heißt die Devise

Am Ende stellt sich – wie so oft bei solchen Debatten – die Frage, welche Erkenntnis man aus den neuesten Analysen gewinnen kann. Bleibt jetzt alles beim Alten?  Aus dem Hin und Her der Diskussionen wird jedenfalls ersichtlich: Die eine Strategie, die für jeden älteren Hypertoniker anwendbar ist, gibt es offensichtlich nicht. Es gilt, wie Bakris und Briasoulis betonen, die Vorteile und Nachteile einer intensivierten Blutdrucktherapie immer individuell abzuwägen. Dann könne man auch bei älteren Patienten einen niedrigeren Blutdruck anstreben, wenn er toleriert werde, lautet ihr Fazit. Eine solche Intensivierung sollte allerdings ein strenges Monitoring der Patienten auf das Vorliegen einer orthostatischen Hypotension, Veränderungen der Nierenfunktion sowie der Kognition beinhalten.

Literatur

Bavishi C, Bangalore S, Messerli F. Outcomes of Intensive Blood Pressure Lowering in Older Hypertensive Patients JACC 2017;69(5)486–93; http://dx.doi.org/10.2016/j.jacc.2016.10.077

Bakris G, Briasoulis A. Searching for The Optimal Blood Pressure Range in the Elderly, Are We There Yet? JACC 2017;69(5):494–6; http://dx.doi.org/10.2016/j.jacc.2016.10.076

Weiss J et al. Benefits and Harms of Intensive Blood Pressure Treatment in Adults Aged 60 Years or Older: A Systematic Review and Meta-analysis. Ann Intern Med, online 17. Januar 2017

Pressemitteilung der Deutschen Hochdruckliga vom 24.01.2017

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