Neue europäische Leitlinien zu Herzklappen-Erkrankungen vorgestellt

Die europäischen Fachgesellschaften ESC (Kardiologie) und EACTS (Herzchirurgie) haben ihre Leitlinien zum Management bei Herzklappen-Erkrankungen auf Basis der in jüngster Zeit durch neue Studien erweiterten Evidenz aktualisiert. Viele Empfehlungen sind neu oder wurden modifiziert.

Von Peter Overbeck

 

07.09.2021

Auf dem Gebiet der strukturellen Herzerkrankungen hat sich in den vergangenen Jahren viel getan – sowohl im Hinblick etwa auf Transkatheter-Therapien als auch auf klappenchirurgische Interventionen. Vier Jahre nach dem letzten Update 2017 haben ESC und EACTS deshalb eine erneute Aktualisierung ihrer Leitlinien zum Thema Herzklappen-Erkrankung für notwendig erachtet.

 

Angesichts der dynamischen Entwicklung auf den kardiologischen und herzchirurgischen Fachgebieten wird in den neuen, beim virtuellen ESC-Kongress 2021 präsentierten Leitlinien besonderes Gewicht auf die generelle Empfehlung gelegt, dass diagnostische Abklärung, therapeutische Entscheidungsfindung und Behandlung von Patienten mit erworbenen Herzklappen-Erkrankungen durch ein multidisziplinäres Herzteam an spezialisierten Zentren mit hoher Expertise erfolgen sollten.

 

Das System standardisierter Empfehlungen, denen zufolge eine Behandlung auf Basis der verfügbaren Evidenz „empfohlen wird oder indiziert ist“ (Klasse-I-Empfehlung) oder „in Betracht gezogen werden sollte“ (Klasse-IIa) oder „in Betracht gezogen werden kann“ (Klasse-IIb) oder „kontraindiziert ist“ (Klasse-III), wurde beibehalten, ebenso die Unterteilung der Evidenz-Level in A, B und C.

Fokus auf asymptomatische Herzklappen-Erkrankungen

Neu in die Leitlinien aufgenommen wurden Empfehlungen bezüglich einer Intervention bei asymptomatischen Patienten mit schweren Herzklappen-Erkrankungen. Hier kommt es auf das richtige „Timing“ an: Bei zu früher Intervention könnten prozedurale Risiken den Nutzen überwiegen, bei verspäteter Intervention könnten wiederum irreversible Schäden den Therapieerfolg limitieren.

 

Aortenklappen-Insuffizienz: Im Fall einer schweren Aorteninsuffizienz wird eine Herzklappen-Operation jetzt bei asymptomatischen Patienten mit linksventrikulärer Ejektionsfraktion (LVEF) ≤50% oder linksventrikulärem endsystolischem Durchmesser (LVESD) >50 mm (oder >25 mm/m2 Körperoberfläche als Index-Cut-off) empfohlen (Klasse-I/B).  Bei Patienten mit LVESD >20 mm/m2 Körperoberfläche oder LVEF ≤55% kann eine Operation in Betracht gezogen werden, wenn das Operationsrisiko niedrig erscheint (Klasse-IIb/C).

 

Aortenklappen-Stenose: Eine frühe Intervention wird bei asymptomatischen Patienten mit schwerer Aortenstenose und systolischer Dysfunktion (LVEF <50%) empfohlen (Klasse I/B), ebenso bei asymptomatischen Patienten mit schwerer Aortenstenose und Symptomen beim Belastungstest (Klasse-I/C).

 

In Betracht gezogen werden sollte eine Intervention künftig bei asymptomatischen Patienten mit LVEF >55% und normalem Belastungstest, wenn das prozedurale Risiko niedrig ist und Parameter wie sehr schwere Aortenstenose, schwere Klappenverkalkung oder deutlich erhöhte BNP-Werte vorliegen (Klasse-IIa/C).

 

Erweiterte Empfehlungen sind in den neuen ESC/EACTS-Guideline auch im Hinblick auf asymptomatische Patienten mit primärer Mitralklappen-Insuffizienz oder mit primärer Trikuspidalklappen-Insuffizienz enthalten.

Welche Intervention bei Aortenstenose?

Transkatheter-Aortenklappen-Implantation (TAVI) und chirurgischer Aortenklappen-Ersatz sind als etablierte Therapieoptionen in jüngster Zeit bei einer zunehmenden Zahl von Patienten mit schwerer Aortenstenose zur Anwendung gekommen. Beide Methoden sind in randomisierten kontrollierten Studien über das gesamte Spektrum von Patienten mit niedrigem bis hohem Operationsrisiko verglichen worden.

 

Die neuen Leitlinien ziehen die Altersgrenze für die Wahl der einen oder anderen Methode bei 75 Jahren. Für Patienten im Alter <75 Jahre und niedrigem Operationsrisiko (STS-Prom/EuroSCORE II <4%) oder bei für eine transfemorale TAVI nicht geeigneten, aber operablen Patienten wird ein chirurgischer Aortenklappen-Ersatz empfohlen (Klasse-I/B).

 

Eine TAVI wird dagegen bei älteren Patienten (75 Jahre oder älter) oder solchen mit hohem Operationsrisiko (STS-PROM/EuroSCORE II >8%) sowie bei inoperablen Patienten empfohlen (Klasse-I/A).

 

Bei den übrigen Patienten ist entweder eine TAVI oder eine Klappenoperation in Abhängigkeit von einer sorgfältigen Betrachtung individueller klinischer, anatomischer und prozeduraler Charakteristika indiziert (Klasse-I/B).

 

Die Leitlinien raten dazu, die vom Herzteam gegebene Behandlungsempfehlung stets mit dem Patienten zu diskutieren, damit dieser eine auf medizinischer Aufklärung gründende Wahl („informed treatment choice“) treffen kann.

Primäre und sekundäre Mitralinsuffizienz

In den neuen Leitlinien wird die Wichtigkeit einer ätiologischen Differenzierung zwischen primärer und sekundärer (ischämischer oder nicht-ischämischer) Mitralinsuffizienz betont. Bei symptomatischen Patienten mit schwerer primärer Mitralinsuffizienz wird die Bedeutung der Klappenoperation als First-Line-Methode bekräftigt – vor allem dann, wenn eine Klappenreparatur möglich erscheint.

 

Bei schwerer sekundärer Mitralinsuffizienz werden Klappenoperation oder die interventionelle Methode der Transcatheter Edge-to-Edge Repair (TEER) mittels Clip-Behandlung nur bei Patienten empfohlen, die trotz leitliniengerechter Therapie (einschließlich CRT, wenn indiziert) weiterhin symptomatisch sind. Die Entscheidung muss durch ein strukturiertes multidisziplinäres Herzteam getroffen (Klasse-I/B).

 

Bei ausgewählten symptomatischen Patienten sollte eine TEER in Betracht gezogen werden, wenn eine Operation nicht möglich erscheint und Kriterien erfüllt sind, die eine höhere Wahrscheinlichkeit für ein Ansprechen auf die TEER-Behandlung nahelegen (Klasse-IIa/B). Das TEER-Verfahren ist damit aufgewertet worden. Grundlage dafür bilden vor allem die positiven Ergebnisse der COAPT-Studie, die auch die zu beachtenden Prädiktoren für einen Erfolg der TEER geliefert hat.

Antikoagulation und Schlaganfall-Prophylaxe

In großen randomisierten Studien zum Vergleich von Nicht-Vitamin-K-abhängigen oralen Antikoagulanzien (NOAK) und Vitamin-K-Antagonisten (VKA) bei Patienten mit Vorhofflimmern waren auch einige Patienten mit Herzklappenerkrankungen vertreten. Ebenso wie in den Gesamtkollektiven dieser Studien hat sich die Antikoagulation mit NOAK auch in den Subgruppen mit Klappenerkrankungen als vorteilhaft im Vergleich zu VKA erwiesen.

 

Dementsprechend werden in den neuen Leitlinien jetzt bei allen Patienten mit Vorhofflimmern und Klappenerkrankungen (Aortenstenose, Aorten- oder Mitralinsuffizienz) NOAK als zu bevorzugende Antikoagulanzien zur Schlaganfall-Prophylaxe empfohlen (Klasse-I/A).

LAA-Verschluss bei Klappenoperationen aufgewertet

Aufgewertet wurde auch der chirurgische Verschluss des linken Vorhofohrs (LAA-Verschluss) im Rahmen von Herzklappen-Operationen bei Patienten mit Vorhofflimmern und erhöhtem Schlaganfall-Risiko (CHA2DS-VASc-Score: 2 oder höher). Die Empfehlung laut nun, dass ein zusätzlicher LAA-Verschluss bei entsprechenden Operationen künftig in Betracht gezogen werden sollte (Klasse-IIa/B).

 

Die Evidenzbasis für diese Empfehlung lieferte erst kürzlich die LAAOS-III-Studie. Sie hat gezeigt, dass das Schlaganfall-Risiko um rund ein Drittel gesenkt wird, wenn bei kardialen Operationen als Zusatzmaßnahme ein LAA-Verschluss durchgeführt wird.

Management der antithrombotischen Therapie

Die neueren Studien POPular-TAVI (Kohorte A und Kohorte B) und GALILEO sind in den neuen Leitlinien bezüglich der Empfehlungen zur antithrombotischen Therapie nach TAVI berücksichtigt worden. Auf Basis ihrer Ergebnisse wird bei TAVI-Patienten, bei denen aus anderen Gründen wie Vorhofflimmern eine Indikation für eine orale Antikoagulation besteht, eine lebenslange Antikoagulation empfohlen (Klasse-I/B).

 

Bei Patienten ohne Indikation zur oralen Antikoagulation ist nach TAVI eine lebenslange Therapie mit einem Plättchenhemmer indiziert (Klasse-I/A).

 

Von einer routinemäßigen oralen Antikoagulation wird bei TAVI-Patienten ohne vorbestehende Indikation zur Antikoagulation mit Verweis auf die Ergebnisse der GALILEO-Studie explizit abgeraten (Klasse-III/B).


Literatur

Vorgestellt beim virtuellen Kongress der European Society of Cardiology (ESC) 2021, 27. – 31. August 2021

 

2021 ESC/EACTS Guidelines for the management of valvular heart disease. European Heart Journal 2021. doi:10.1093/eurheartj/ehab395

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