Vorhofflimmern: „Stumme“ Hirninfarkte trotz Antikoagulation recht häufig
Nicht wenige Vorhofflimmern-Patienten erleiden sog. „stumme“ Hirninfarkte, obwohl sie antikoaguliert werden, wie eine prospektive Studie deutlich macht. Experten fordern ein Umdenken – denn „stumm“ scheinen diese Hirnläsionen nicht zu sein…
Ischämische Hirnläsionen kommen bei Vorhofflimmern-Patienten relativ häufig vor, selbst wenn sie antikoaguliert werden. Und die meisten dieser Infarkte sind definitionsgemäß klinisch „stumm“. So lassen sich die Ergebnisse einer prospektiven multizentrischen Kohortenstudie aus der Schweiz (Swiss-AF) zusammenfassen.
„Obwohl eine Antikoagulation bei Vorhofflimmern-Patienten hocheffektiv ist in der Verhinderung kardioembolischer Schlaganfälle und mit einem geringeren Demenz-Risiko assoziiert ist, deuten unsere Daten an, dass sie womöglich nicht ausreicht, um die Progression einer vaskulären Gehirnverletzung vollständig zu verhindern“, folgern die Studienautoren um Prof. Michael Kühne von der Universitätsklinik Basel aus ihren Daten.
Laufende Kohorte aus der Schweiz
Eine 2019 veröffentlichte Untersuchung der noch laufenden Swiss-AF-Studie, die aus 1.737 Vorhofflimmern-Patienten bestand, hatte bereits mit Blick auf die zerebralen Folgen einer Vorhofflimmern-Erkrankung Sorgen bereitet: Bei etwa einem von fünf Patienten ließ sich damals zu Studienbeginn ein klinisch stummer Hirninfarkt im MRT des Kopfes nachweisen. Die Patienten wurden daraufhin zwei Jahre lang nachverfolgt und nach diesem Zeitraum erneut mittels eines MRTs untersucht. Diese 2-Jahres-Daten der Swiss-AF-Kohorte mit nunmehr 1.227 Vorhofflimmern-Patienten wurden jetzt im „European Heart Journal“ veröffentlicht. Das mittlere Alter der Teilnehmerinnen und Teilnehmern betrug 71 Jahre, ihr CHA2DS2-Vasc-Score lag im Schnitt bei 3, knapp 90% wurden mit Antikoagulanzien behandelt.
5,5% hatten neue Läsionen im MRT
Trotz einer solchen leitliniengerechten Behandlung konnten Kühne und Kollegen nach zwei Jahren relativ häufig neu entstandene Hirnläsionen im MRT nachweisen, konkret bei 68 Personen, also bei 5,5% (sowohl kleine nicht kortikale Infarkte [≤ 20 mm] als auch große kortikale wie nicht kortikale Infarkte). Weitere 28 Patienten (2,3%) hatten in dieser Zeit einen klinisch manifesten Schlaganfall oder eine TIA erlitten. Die allermeisten im MRT detektierbaren Hirnläsionen wurden als „klinisch stumm“ klassifiziert (85%). 88,2% der betroffenen Patienten waren antikoaguliert.
„Klinisch stumm“ womöglich falsche Bezeichnung
In einem Editorial stellen sich die beiden US-Kardiologen Prof. Jared Bunch und Prof. Benjamin Steinberg allerdings die Frage, ob die Bezeichnung „klinisch stumm“ in diesem Kontext noch richtig ist. Denn in der aktuellen Analyse war die Detektion entsprechender Läsionen mit einem signifikanten Rückgang der kognitiven Leistungen assoziiert, erfasst durch mehrere Scores wie dem „Cognitive Construct score“. Das Ausmaß dieses Leistungsabfalls war bei Patienten mit „klinisch stummen“ Läsionen sogar ähnlich ausgeprägt wie bei denen mit einem klinisch manifesten Schlaganfall.
Bunch und Steinberg könnten sich deshalb vorstellen, dass das Ausmaß der Hirnschädigungen bei Vorhofflimmern-Patienten bisher unterschätzt wurde, da in Studien „clinical“ oder „disabling stroke“ oft als alleinige Endpunkte verwendet wurden. „Diese Daten sollten die Frage aufwerfen, ob die Bezeichnung ‚stumme‘ Hirninfarkte womöglich eine Fehlbezeichnung ist“, geben sie zu bedenken. Zumindest sollten sie ihrer Ansicht nach dazu führen, die klinischen Konsequenzen solcher Läsionen mehr anzuerkennen. Als Implikation für die Praxis schlagen die US-Kardiologen vor, bei Patienten mit „zufällig“ entdeckten Hirninfarkten kognitive Tests vorzunehmen.
Umdenken gefordert
Die beiden Mediziner regen aber nicht nur in diesem Punkt ein Umdenken an. Bedenklich finden sie nämlich auch den Umstand, dass die meisten in dieser Analyse detektierbaren Hirnläsionen trotz Antikoagulation aufgetreten waren. „Angesichts der Häufigkeit und Signifikanz solcher Ereignisse, die unter den aktuellen Behandlungen auftreten, müssen wir die mechanistischen Paradigmen zum Auftreten von Vorhofflimmern und Schlaganfällen und unsere aktuellen Therapien hinterfragen“, machen sie deutlich. Denn noch immer gebe es Unklarheiten, inwiefern Vorhofflimmern mechanistisch zur Entstehung von Schlaganfällen beitrage und inwieweit hier eine Kausalität bestehe, erläutern sie. Zudem zielten die bisherigen Interventionen hauptsächlich darauf ab, klinisch manifeste Schlaganfälle zu verhindern. Angesichts der neuesten Erkenntnisse halten es Bunch und Steinberg jedoch für erforderlich, über Lösungen nachzudenken, die jegliche Formen von Hirnverletzungen adressieren. Dabei helfen könnte ihrer Ansicht nach ein „outside the box thinking“. Bedeutet, andere Personen abseits der Kardiologie sollten in die Überlegungen einbezogen werden, um den Blickpunkt und die Perspektiven zu erweitern.
Potenzielle Strategien
Dass über alternative bzw. erweiterte Behandlungsansätze nachgedacht werden sollte, diese Ansicht teilen auch die Schweizer Kardiologen. Speziell bei Patienten mit kleinen, ischämischen lakunären Infarkten, die primär durch eine zerebrale „small vessel disease“ verursacht werden und nicht nur eine Kardioembolie, sei eine Antikoagulation womöglich weniger effektiv, so Kühne und Kollegen. Als mögliche Strategien führen sie den Einsatz anderer Antikoagulanzien, höherer Dosierungen oder eine kombinierte Behandlung mit einem Plättchenhemmer auf, wobei der Effekt dieser Optionen noch unklar ist und die damit verbundenen Blutungsrisiken beachtet werden sollten. Ein Potenzial könnte, wie Kühne und sein Team erläutern, auch in einer frühen Rhythmuskontrolle liegen. In der EAST-AFNET-4-Studie hat sich durch eine solche Strategie die Prognose von Vorhofflimmern-Patienten mit Blick auf das Schlaganfall- und Sterberisiko deutlich verbessern lassen. Allerdings seien die Auswirkungen dieses Ansatzes auf das Auftreten stummer Hirninfarkte und die kognitive Funktion aktuell nicht bekannt, geben sie zu bedenken.
Eine wichtige Limitation der aktuellen Analyse ist das Fehlen einer Kontrollgruppe mit Personen desselben Alters. Somit ist unklar, wie groß das „Hintergrundrauschen“ ist, oder anders ausgedrückt, wie häufig Hirnläsionen in der älteren Bevölkerung unabhängig von einer Vorhofflimmern-Diagnose auftreten. Frauen waren mit einem Anteil von 26% unterrepräsentiert, sodass die Generalisierbarkeit der Befunde eingeschränkt ist. Ebenfalls zu berücksichtigen gilt es, dass in der Studie keine Angaben zur Dosierung der Antikoagulanzien und zur Adhärenz gemacht werden; beides könnte Einfluss auf die Behandlungseffekte bzw. auf das Auftreten von Hirnläsionen gehabt haben.
Literatur
Kühne M et al. Silent brain infarcts impact on cognitive function in atrial fibrillation, Eur Heart J 2022; ehac020, https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehac020
Bunch TJ, Steinberg BA. Clinical strokes in atrial fibrillation: the tip of the iceberg, Eur Heart J 2022;, ehab900, https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehab900