Online-Artikel 12.05.2017

Timo Baumann über seine Recherche zur Rolle der DGK in der NS-Zeit

Der Historiker Timo Baumann hat die Ergebnisse seiner vierjährigen Recherchearbeit zur Rolle der DGK in der NS-Zeit in einem Buch zusammengetragen. Auf der DGK-Jahrestagung berichtete er u. a. über die in dieser Zeit durchgeführten Unterkühlungsexperimente zum Zwecke der Luftwaffenforschung.  

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bedanke mich für Ihr Interesse an meinem Forschungsprojekt und dem daraus hervorgegangenen Buch. Einige Ergebnisse meiner mehrjährigen Recherche möchte ich Ihnen heute skizzieren. In der Geschichte der 1927 auf den Weg gebrachten Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung war bislang über die NS-Zeit wenig bekannt. Ziel meiner Untersuchung ist es, diese Lücke zu schließen und damit auch einen Beitrag zur Geschichte medizinischer Fachgesellschaften im Nationalsozialismus zu leisten. Leitfragen entwickelte ich vor dem Hintergrund der aktuellen medizinhistorischen Forschung:

  1. Wie verlief der Prozess der organisatorischen ‚Gleichschaltung‘ sowie der personellen und fachlichen Anpassung der Gesellschaft ab 1933?
  2. Wie stellte sich der Umgang mit und das Schicksal von rassistisch oder politisch verfolgten Mitgliedern dar?
  3. Welche Formen von Anpassung, Verstrickung und Belastung gab es innerhalb der Gesellschaft – zumal unter Amts- und Preisträgern?

Methodisch folgt die Untersuchung besonders dem aktuellen Ansatz der Netzwerkforschung. Die medizinische Gesellschaft wird nicht als bloße Institution im organisatorischen oder juristischen Sinne verstanden, sondern als Netzwerk von Personen, die medizinisch-wissenschaftlich, beruflich und teils auch durch persönliche Beziehungen miteinander verbunden waren. Die Leitfragen bearbeitete ich in mehrjährigen biografischen Recherchen und Archivstudien. Da die Gesellschaft selbst lediglich über knappe Protokolle der jährlichen Mitgliederversammlungen verfügt, waren historische Quellen aus dem engeren Umfeld heranzuziehen, etwa aus dem umfangreichen Nachlass von DGK-Mitbegründer Bruno Kisch in Jerusalem. Sehr wichtig war Material aus staatlichen und Universitätsarchiven, besonders für die Frage nach der Belastung von Amts- und Preisträgern der Gesellschaft. Dies war jeweils individuell-biografisch zu prüfen: sowohl hinsichtlich der Mitgliedschaft in NS-Organisationen als auch bezüglich möglicher Verfehlungen im ärztlichen Handeln. Die Zu- und Abgänge von Mitgliedern konnten anhand der Mitgliederverzeichnisse ermittelt werden, die 1928 bis 1941 und wieder seit 1949 jährlich in den „Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung“ erschienen. So ließen sich potenzielle Emigranten ermitteln – und andererseits ließ sich über die Neueintritte herausfinden, für welche Mediziner die Gesellschaft jeweils interessant wurde.

Einige Ergebnisse zu meinen drei Leitfragen möchte ich heute vorstellen. Zunächst zur organisatorisch-personellen Anpassung der Gesellschaft: Sie wurde insbesondere aufgrund der Initiative des Kölner Physiologen Bruno Kisch 1927 gegründet. Er lud namhafte Professoren an Universitäten und Kliniken zur Teilnahme an der ersten Tagung 1928 ein, auf der dann außerdem zahlreiche weitere Ärzte beitraten. Die Gesellschaft entwickelte sich bis 1933 zu einem recht offenen Forum für Mediziner, die an der Kreislaufforschung interessiert waren – in einer Zeit, als es den Facharzt für Kardiologie noch nicht gab. Im März 1932 schied Kisch turnusmäßig aus dem fünfköpfigen Vorstand aus; er wurde aber von der Mitgliederversammlung gleich in das neugeschaffene Amt „Ständiger Schriftführer“ gewählt, heute würde man sagen: er wurde Geschäftsführer. Ich komme nun direkt zum Zeitraum:

1933 bis 1936: „Juden“ und „Deutschblütige“ in einer Gesellschaft [Kap. 3]

„Deutschblütig“ ist eine Vokabel, die sich auf den Karteikarten der Kassenärztlichen Vereinigung findet. Kisch schrieb in seinen Memoiren (1966): „Die Unfähigkeit der verschiedenen einander folgenden Regierungen in Deutschland, der immer trostloser werdenden Situation Herr zu werden, beeinflußte jedermann, und die brutalsten extremen Parteien zogen den größten Nutzen aus dieser Situation. [...] und so kam schließlich der berüchtigte 30. Januar 1933, an dem Hindenburg Deutschland der Partei der Rechtlosigkeit und des Fanatismus auslieferte.“ Die Gesellschaft mit ihren damals rund 200 Mitgliedern passte sich nach den verfügbaren Dokumenten organisatorisch und personell dem NS eher zögerlich an. Die Mitgliederversammlung Anfang März 1933 wählte Georg Benno Gruber neu in den Vorstand, dem für das beginnende Geschäftsjahr 1933/34 außerdem angehörten: Ernst Magnus-Alsleben, Franz Groedel, Johannes Nörr und Siegfried Thannhauser. Bruno Kisch blieb Ständiger Schriftführer. Außer Nörr und Gruber waren alle Vorstandsmitglieder Juden oder galten nach NS-Ideologie als ‚Nichtarier‘.

Schon kurz nach dieser Tagung hatte die NS-Gesetzgebung erste Konsequenzen für die Gesellschaft. Am 12. April 1933 bestimmte der Dekan der Medizinischen Fakultät an der Universität Freiburg die sofortige Beurlaubung jüdischer Fakultätsangehöriger. Siegfried Thannhausers Stellung in Freiburg war damit direkt bedroht. Er behielt seine Universitätsstellung trotz des NS-Berufsbeamtengesetzes vorerst, weil er als unersetzlich galt. Dennoch schrieb er fünf Wochen später an Kisch (zur Weiterleitung an den Vorstand): „Es tut mir ausserordentlich leid, unter den gegenwärtig obwaltenden Verhältnissen mein Amt als Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Kreislaufforschung nicht mehr tätigen zu können.“ Bezeichnend ist, wie Kisch versuchte, den patriotischen Thannhauser im Vorstand zu halten: „Ich persönlich halte es nicht nur für unrichtig, sondern der Sache des idealen Deutschtums, wie der Situation der deutschen Juden in höchstem Masse abträglich, wenn die Juden heute aus solchen Gremien, die ihre völlig unpolitischen, hohen Ziele unbeirrt und unverändert zu verfolgen wünschen[,] austreten.“ Thannhauser ließ sich aber nicht umstimmen. Staatlicher Druck auf die Gesellschaften erfolgte ein halbes Jahr später: Anfang Oktober 1933 diskutierte beispielsweise der Vorstand der Deutschen Pharmakologischen Gesellschaft in Berlin eine Mitteilung, „daß das Ministerium auf einer Änderung des Vorstandes bestehe und, falls die abgelehnt wird, die Gesellschaft auflösen werde.“ Ähnliche Nachrichten vom Reichsinnenministerium müssen auch die DGK erreicht haben. 

Ende desselben Monats Oktober 1933 schrieb Eberhard Koch an Bruno Kisch: „Was wird denn nun aus unserem Klübchen?“ Koch war die rechte Hand von Franz Groedel im Bad Nauheimer Kerckhoff-Institut für Herzforschung. Kurz darauf löste er Kisch als Schriftführer ab. Einen Monat später, Ende November 1933, schrieb Koch bereits auf Briefpapier der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung an Bruno Kisch. Koch berichtete von einer Besprechung mit Johannes Nörr. Der habe „den Vorstand so ernannt, wie Sie es vorschlagen:“ Dem geplanten Vorstand sollten neben Johannes Nörr und Eberhard Koch drei neue Mediziner angehören, die – unausgesprochen – einen ‚arisierten‘ Vorstand aus weiterhin fünf Personen bilden sollten.

Es kam aber anders. Das Protokoll der folgenden DGK-Mitgliederversammlung im April 1934 in Bad Kissingen unterschrieben Koch und Nörr; darin hieß es: „Tätigkeitsbericht von Prof. NÖRR über das verflossene Geschäftsjahr: Infolge des politischen Umschwungs haben die ursprünglichen Vorstandsmitglieder freiwillig niedergelegt. Als 1. Vorsitzender hat Prof. NÖRR zum Schriftführer Prof. KOCH ernannt. – Kurzer Bericht über die Bemühungen zur Erhaltung der Gesellschaft, deren Bestand bedroht war.“ Über die anstehenden Satzungsänderungen durften die Mitglieder abstimmen und nahmen sie „einstimmig“ an. Wichtigster Punkt war die Einführung eines neuen Amtes: „Der Vorsitzende wird auf mindestens 3 Jahre gewählt“. Auf Antrag Nörrs wählte die Mitgliederversammlung Eberhard Koch zum alleinigen Vorsitzenden. Der zuletzt noch zweiköpfige Vorstand war damit aufgelöst, d. h. auch Nörr schied aus.

Die – in Anführungszeichen – ‚Arisierung‘ der Vereinsleitung hatte die DGK damit durchgeführt. Daran, ‚jüdische‘ Mitglieder auszuschließen, wurde aber nicht gedacht – im Gegensatz etwa zu den Urologen, die eine Parallelgesellschaft gründeten und die Juden in der alten Gesellschaft zurückließen.

Auf die weitere Entwicklung der Gesellschaft, deren Vorsitzender Eberhard Koch bis Kriegsende blieb, werde ich später noch kurz eingehen und komme nun zur zweiten Leitfrage:

 Emigration, Verfolgung und Widerstand ehemaliger und aktiver Mitglieder [Kap. 4]

Die Tagung von 1933 war die letzte, die Bruno Kisch besuchte, obwohl er bis 1937 Mitglied blieb. Ein Jahr länger in der Gesellschaft blieb der ehemalige Vorstand Franz Groedel, der Deutschland schon Ende 1933 verlassen hatte und im Mitgliederverzeichnis bald unter einer New Yorker Anschrift geführt wurde. Auch wenn es (zumindest bis 1939) keine Hinweise gibt, dass die DGK Mitglieder ausschloss, hinterließ die staatliche Entrechtungs- und Vertreibungspolitik deutliche Spuren. Von den 228 Mitgliedern, die die Gesellschaft 1933 hatte, emigrierten nach meiner Recherche 34, also 15 Prozent. Darunter finden sich drei Vorstände: Franz Groedel, Ernst Magnus- Alsleben und Siegfried Thannhauser – neben Schriftführer Bruno Kisch.

Dass ein Status als Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs ihn nicht mehr schützte, erfuhr DGK-Begründer Bruno Kisch Mitte November 1935 aus einem Schreiben des Kölner Universitätskurators: Er sei wegen der „in Aussicht stehenden Durchführungsbestimmungen zum Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935“ mit sofortiger Wirkung beurlaubt. Am vorletzten Tag des Jahres 1935 wurde er informiert, dass er am folgenden Tag in den Ruhestand trete. Mit der 4. Verordnung zum Reichsbürgergesetz erlosch 1938 die Approbation „jüdischer Ärzte“. Bruno Kisch musste umgehend die von ihm begonnene Privatpraxis in Köln aufgeben. Die Karteikarte, die die Kassenärztliche Vereinigung über ihn führte, trägt den Stempel: „Bestallung erloschen 30.9.38“. Weitere zehn in dieser Kartei sicher identifizierte Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Kreislaufforschung tragen auf ihrer Karte ebenfalls diesen Stempel, auch sie alle geführt als „Juden“. Nur einer von ihnen, Selmar Harry Falkenstein, blieb danach noch Mitglied der Gesellschaft.

Kisch fuhr laut seinen Memoiren am Abend des 9. November 1938 von Köln nach Stuttgart, um im US-Konsulat Papiere abzuholen: „Als ich früh in Stuttgart ankam, merkte ich die Folgen des Pogroms. Die Leute erzählten sich von verbrannten Synagogen, man sah die Geschäfte mit zertrümmerten Fensterscheiben“. Er erhielt ein Visum und erreichte mit Frau und Kindern noch im Dezember 1938 New York.

Anderen Mitgliedern gelang die Flucht aus Deutschland nicht. Unbekannt ist das Schicksal von Selmar Harry Falkenstein. Seine Karteikarte bei der Kassenärztlichen Vereinigung vermerkte: „früher als Kassenarzt tätig gewesen“. In den Mitgliederlisten der Gesellschaft ist er von 1928 bis 1941 aufgeführt (d. h. in allen verfügbaren Mitgliederlisten von Gründung bis Kriegsende). Ein „Stolperstein“ verweist heute in Köln darauf, dass er 1942 „RICHTUNG OSTEN“ deportiert wurde.

Die Ausweitung des deutschen Machtbereichs brachte die rassistische Gesetzgebung in weitere Staaten Europas und betraf nun auch Mitglieder der Gesellschaft außerhalb Deutschlands. 1933 hatte ein ganzes Viertel der Mitglieder eine Korrespondenzadresse außerhalb des Reichs angegeben. Sechs nannten speziell die Stadt Wien, elf Prag. Ernst Peter Pick wurde wegen jüdischer Vorfahren Ende Mai 1938 an der Universität Wien zwangspensioniert. Er emigrierte und arbeitete ab 1939 an der Columbia University in New York. Als Mitglied der Gesellschaft – das war er von Anfang an – wurde Pick seit 1939 nicht mehr geführt. Im März 1939 besetzte die Wehrmacht die Tschechoslowakei. Hugo Přibram, ehemals a. o. Professor in Prag und seit 1930 Mitglied der Gesellschaft, wurde im November 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort im Mai 1943. Přibram stand noch im letzten Mitgliederverzeichnis von 1941, kann also zum Zeitpunkt seines Todes als aktives Mitglied gelten. Im 1940 durch Deutschland besetzten Norwegen schloss sich das DGK-Mitglied Leif Poulsson dem Widerstand an. Ende 1941 wurde er wegen „Flugblattorganisation“ erstmals festgenommen. Anfang Oktober 1943 wurde er nach Natzweiler ins Elsass deportiert. Wie viele dortige Gefangene war auch Poulsson ein NN-Gefangener. Nacht- und Nebel-Gefangene wurden völlig isoliert, um ihren Verbleib zu verschleiern. Poulsson überlebte als Häftlingsarzt in der Krankenstation. Er gehörte zu der kleinen Zahl von Mitgliedern der DGK, die nachweislich Widerstand leisteten: Neben Otto Krayer, Georg Groscurth und Walerjan Spychała, über die im Buch mehr zu lesen ist.

Die dritte Leitfrage nach Anpassung, Verstrickung und Belastung behandelt besonders das umfangreiche fünfte Kapitel:

Die Gesellschaft seit 1937 als Plattform von Luftwaffenforschern und deren Forschung [Kap. 5]

Wie die Anpassung der Kreislaufforscher als Gesellschaft ist die persönliche Verstrickung bzw. Belastung (auch späterer) Amtsträger und Mitglieder nicht ausschließlich am – eher durchschnittlichen – NS-Organisationsgrad zu messen. Schon ab 1934/35 verschob sich unter dem alleinigen Vorsitz von Eberhard Koch der ursprüngliche Anspruch der DGK, vor allem ein Diskussionsforum für Herz- und Kreislaufforschung zu sein. Immer mehr sollte die eigene Nützlichkeit für den NS-Staat nachgewiesen werden. Zu dieser ‚Anpassung‘ kam in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine zusätzliche Ausrichtung auf flugmedizinische Fragen hinzu – ein Trend, der nicht nur bei DGK-Tagungen, sondern gerade auch innerhalb der Mitgliederschaft festzustellen ist. Ab 1939 dann stellten sich (gerade sehr namhafte) Mitglieder mit ihren militärmedizinischen Projekten aktiv in den Dienst des deutschen Raub- und Vernichtungskriegs. Dies gilt sowohl für die Zeit vor als auch nach der letzten Kriegstagung der DGK im Frühjahr 1941. Soweit heute feststellbar, reicht die Belastung Einzelner noch weiter: Zwei spätere Vorsitzende (Rudolf Thauer und Karl Wezler) machten Versuche an Menschen, die für die Probanden zwar nicht lebensgefährdend, aber belastend waren; ein weiterer (Erich Schütz) war in Untersuchungen an Psychiatriepatienten verstrickt. Vier Mitglieder waren in verbrecherische Menschenversuche in Dachau involviert, acht spätere Vorsitzende bzw. Preisträger nahmen an der Luftwaffenbesprechung Seenot und Winternot 1942 teil.

Festzuhalten ist zunächst, dass die Mitgliederzahl der Gesellschaft in den letzten Vorkriegsjahren rapide zunahm. Der Mitgliederversammlung im März 1937 wurden die Namen von 80 neuen Mitgliedern vorgelegt – doppelt so viele wie im Vorjahr und fast viermal so viele wie 1935. Unter ihnen finden sich etliche Mediziner, die später Ämter in der Gesellschaft übernahmen – und andere, die sich mit der Physiologie des Höhenfluges oder derjenigen extremer Temperaturen befassten: Max Bürger, Franz Grosse-Brockhoff, Ernst Holzlöhner, Siegfried Ruff und Hubertus Strughold. Weiter gehörte Rudolf Thauer – ab 1951 für 25 Jahre Ständiger Geschäftsführer der Gesellschaft – zu den 1937 eingetretenen Mitgliedern. Auch ältere Mitglieder wie Hermann Rein forschten früh für die Streitkräfte. Zeitnahe Äußerungen zu ethischen Fragen liegen von den wenigsten der untersuchten DGK-Mediziner vor. 

Eine Ausnahme bildet eine Rede Franz Büchners aus dem Jahr 1941. Sie bezog sich nicht auf das eigene ärztliche Handeln, sondern auf die ‚Euthanasie‘-Verbrechen in Krankenanstalten. Franz Büchner spielte im November 1941 kritisch auf den Krankenmord an – in einem öffentlichen Vortrag in Freiburg vor fast tausend Zuhörern mit dem Titel: „Der Eid des Hippokrates. Die Grundgesetze der ärztlichen Ethik.“ Auch Büchner hielt dies allerdings nicht davon ab, seine medizinische Arbeit in den Dienst der deutschen Angriffskriege zu stellen. Wie 19 weitere damalige DGK-Mitglieder nahm Büchner an einer Kältetagung im Herbst 1942 in Nürnberg teil. Fachleute sollten dort die Ursachen und die medizinische Behandlung von Kälteschäden diskutieren. Unter den 95 Teilnehmern dieser im Oktober 1942 von der Luftwaffe veranstalteten Besprechung Seenot und Winternot war damit ein Fünftel zuletzt – 1941 – im Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft aufgelistet. Zu ihnen gehören spätere Amts- und Preisträger der DGK: Franz Büchner, Franz Grosse-Brockhoff, Hermann Rein, Erich Schütz, Herbert Schwiegk, Rudolf Thauer und Karl Wezler. Der weitere Konferenzteilnehmer Otto Gauer trat der Gesellschaft nach dem Krieg bei. Oberkriegsarzt Hermann Rein beschrieb Kälteversuche an seinem Physiologischen Institut der Universität Göttingen, die an Hunden durchgeführt wurden. Franz Grosse-Brockhoff (Oberarzt am selben Institut) sprach von einem „Selbstversuch“, bei dem die Versuchsperson in der „Kältekammer“ bei minus 12 Grad „in Uniform ohne Mantel“ auf einem Stuhl saß. Versuche an Menschen bildeten – soweit dokumentiert – unter den Experimenten, die DGK-Mitglieder an Instituten durchführten, jedoch eine Ausnahme. 

Karl Wezler berichtete allerdings auf der Seenot-Tagung über gemeinsame Versuche mit Rudolf Thauer in einer Klimakammer, die sie an der Universität Frankfurt/M errichtet hatten. „Bei 4–15° C Raumtemperatur lagen die Versuchspersonen (gesunde Studenten im Alter von 20–22 Jahren) nackt und möglichst völlig ruhig (abgesehen von Kältezittern) auf dem Untersuchungstisch; [...]. Es wurden Senkungen der Körpertemperatur bis 34,4° C herab erzielt.“ Soweit Karl Wezler.

Das hatte eine bedeutend andere Qualität als die Versuche, über die DGK-Mitglied Ernst Holzlöhner referierte. Holzlöhner bemängelte in seinem Konferenzbeitrag an Tierversuchen, dass „niemals nach dem Herausziehen aus dem Wasser in einem entsprechenden Zeitabstand jener plötzliche Tod beobachtet werden konnte, der sich mit dem Rettungskollaps des Menschen vergleichen läßt. [...]. Es war nun möglich, an Menschen, die nach längerem Aufenthalt in kaltem Wasser geborgen wurden, eine Reihe von Untersuchungen durchzuführen. [...]. Hat die Rektaltemperatur [...] 28° unterschritten, so kann [...] ein plötzlicher Herztod erfolgen.“ Holzlöhner nannte Wassertemperaturen von 12° bis hinunter zu 2°. Laut Protokoll sagte er nicht, dass diese Versuche im KZ Dachau durchgeführt worden waren.

Sigmund Rascher – kein Mitglied der Gesellschaft, aber der SS – war im Sommer 1942 zu diesen Kälteversuchen in Dachau abkommandiert worden. Zur Versuchsgruppe „Seenot“ gehörte zudem Ernst Holzlöhner. Ein Zuziehen der beiden weiteren DGK-Mitglieder Adolf Jarisch und Franz Grosse-Brockhoff war überlegt, aber aus unbekannten Gründen nicht umgesetzt worden. Rascher und Holzlöhner testeten die maximale Kältebelastbarkeit von Menschen und der Tod eines Teils der Probanden war somit einkalkuliert. Soweit bekannt, starben dabei in Dachau vor der Nürnberger Konferenz 15 Menschen (also bis Ende Oktober 1942). Holzlöhner reiste ab, Rascher ermordete danach etwa 70 weitere Häftlinge bei Eiswasserversuchen. Rascher hielt fest, Holzlöhner wolle auf der anstehenden Nürnberger Seenot-Tagung „nur beschränkt Bericht erstatten“, weil er befürchte, die Menschenversuche würden seinen Ruf schädigen.

Was die anwesenden DGK-Mitglieder auf der Konferenz über die Dachauer Kälteversuche wirklich erfuhren und wie sie genau reagierten, ist weder im (überarbeiteten!) Protokoll noch in anderen zeitnahen Quellen überliefert. Hermann Rein schrieb nach dem Krieg: „Drei der Anwesenden erklärten, daß solche Versuche völlig sinnlos und unwissenschaftlich seien und daher unterlassen werden müssten.“ Laut dem gedruckten Tagungsprotokoll zweifelte Franz Grosse-Brockhoff in einer Wortmeldung die von Holzlöhner aufgestellte Behauptung an, wonach die Ergebnisse von Tierversuchen nicht auf den Menschen übertragbar seien.

Die Beteiligung an verbrecherischen Menschenversuchen in Dachau ist für weitere DGK-Mitglieder bereits zuvor dokumentiert. Schon im November 1941 hatte sich Sigmund Rascher in München ans Institut für Luftfahrtmedizin versetzen lassen, das Georg August Weltz leitete. Weltz wiederum wusste von Versuchen am Institut der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt in Berlin, dem Siegfried Ruff vorstand, und er zog Ruff zum Jahreswechsel 1941/42 unterstützend heran, um im Konzentrationslager Dachau „im Interesse der Luftwaffe“ Experimente zur Wirkung großer Höhen durchzuführen. Ruff wollte für die Versuche seinen Assistenten Hans Wolfgang Romberg abstellen. An einer Besprechung in Dachau nahmen Weltz, Ruff, Rascher, Romberg, ein Vertreter Himmlers und der Lagerleiter teil. Unter den genannten gehörten Weltz und Ruff der Gesellschaft an, Rascher und Romberg nicht.

Die Unterdruckversuche sollten Fallschirmabsprünge aus 12 km Höhe in Druckkammern simulieren. Solche Experimente zur Vorbereitung von Notausstiegen aus Höhenflugzeugen waren an anderen Einrichtungen zuvor abgebrochen worden, weil schwerste Höhenkrankheit auftrat. Rascher machte bereits bei dieser Versuchsreihe eigenmächtig zusätzliche Experimente zu Daueraufenthalten in großen Höhen. Romberg soll im April 1942 laut seiner Aussage im Nürnberger Ärzteprozess einen tödlich verlaufenden Versuch beobachtet und seinen Vorgesetzten Ruff informiert haben. Mitte Mai wurde jedenfalls die Druckkammer aus Dachau abgeholt. Tatsächlich waren mindestens 70 Menschen im Umfeld der Unterdruckversuche getötet worden.

Unbekannt ist, wie viele in der Kammer starben, denn einige Häftlinge wurden erhängt oder erschossen. Siegfried Ruff und Georg August Weltz wurden im Ärzteprozess angeklagt und im August 1947 aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Obwohl beide 1949 noch lebten, waren sie nicht auf der ersten Nachkriegs-Mitgliederliste der DGK.

Chemisch behandeltes Meerwasser als Trinkwasser zu nutzen, wurde 1944 wiederum in Dachau und wieder in Kooperation von Luftwaffe und SS untersucht. Beteiligt war DGK-Mitglied Hans Eppinger und möglicherweise Herbert Schwiegk. Opfer waren sogenannte ‚Zigeuner‘, die vielfach Dauerschäden erlitten.

Ernst Holzlöhner beging 1945 Selbstmord, Eppinger 1946, beide DGK-Mitglieder jedenfalls zeitlich vor dem Nürnberger Ärzteprozess. Soweit heute anhand von historischen Quellen nachweisbar ist, waren spätere Vorsitzende der Gesellschaft und Carl-Ludwig-Medaillenträger an solchen verbrecherischen Versuchen in Konzentrationslagern nicht beteiligt. Versuche an Menschen unternahmen aus dieser Gruppe Karl Wezler und Rudolf Thauer. Soweit dokumentiert, zielten diese Versuche jedoch nicht auf maximale Belastbarkeit der Probanden ab und es gab dabei auch keine unbeabsichtigten Schädigungen. Allerdings protestierten diese beiden Forscher nicht gegen Holzlöhners Versuche, sondern fühlten sich im Gegenteil angespornt; sie publizierten danach mehrere Aufsätze über die Versuche in ihrer Klimakammer.

Unter den sehr zahlreichen Forschungsprojekten von DGK-Mitgliedern fällt zudem Erich Schütz auf (der DGK-Vorsitzende von 1963/64). Er veranlasste an der Universität Münster EKG-Aufzeichnungen an Patienten, denen in der dortigen Klinik (offenbar ohnehin) das Gehirn geröntgt wurde. Für dieses in der Psychiatrie damals übliche Verfahren wurde die Gehirnflüssigkeit entfernt – ein lebensgefährlicher und in jedem Fall quälender Eingriff. Der DFG schrieb Schütz 1944, die EKG-Veränderungen seien äquivalent zu denjenigen in einer Druckkammer.

Nach 1945 blieb – wie in weiten Teilen der deutschen Nachkriegsgesellschaft – auch in der Gesellschaft für Kreislaufforschung eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen jüngsten Vergangenheit weitgehend aus.

Zwar tauchen Namen wie Ruff und Weltz auf den Mitgliederlisten nichtmehr auf und der Vertriebene Bruno Kisch wurde 1949 kurzerhand zum Ehrenmitglied ernannt. Im Übrigen aber hielt Fritz Hildebrandt (Kerckhoff-Institut) als Vorsitzender der zweiten Nachkriegstagung 1950 fest: „Der deutsche Wissenschaftler braucht sich nicht zu schämen; wir können stolz darauf sein, daß trotz zweier verlorener Weltkriege und trotz ungeheurer persönlicher und materieller Verluste und mit außerordentlich beschränkten Mitteln trotzdem noch erstaunliche Leistungen auf den wissenschaftlichen Gebieten in Deutschland erzielt worden sind und noch herausgebracht werden, […].“

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Eine Zusammenfassung finden Sie in den Texten der Posterausstellung, eine ausführliche Darstellung im Buch.

Timo Baumann