Nachrichten 25.02.2020

Neuroprotektion nach Schlaganfall: Neuer Wirkstoff enttäuscht, aber …

Der zur Neuroprotektion nach Schlaganfall entwickelte Wirkstoff Nerinetid konnte in einer randomisierten Studie die Behandlungsergebnisse insgesamt nicht verbessern. In einer Subgruppe  deutet sich aber ein möglicher therapeutischer Nutzen an.

Das Konzept der Neuroprotektion bei akutem Schlaganfall stand bisher unter keinem guten Stern. Praktisch alle als Neuroprotektiva entwickelten innovativen Wirkstoffe, die in experimentellen Studien zunächst häufig vielversprechend erschienen, enttäuschten bislang im entscheidenden klinischen Testversuch bei Schlaganfall-Patienten.

Auch die aktuell bei der International Stroke Conference (ISC) vorgestellte und simultan im renommierten Fachblatt „The Lancet“ publizierte placebokontrollierte ESCAPE-NA1-Studie scheint auf den ersten Blick die lange Kette der Misserfolge fortzusetzen. Denn bei Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall aufgrund von Verschlüssen großer Hirnarterien und geplanter endovaskulärer Thrombektomie konnte die Therapie im Hinblick auf funktionelle Ergebnisse durch den Wirkstoff Nerinetid im Vergleich zu Placebo insgesamt nicht nennenswert verbessert werden.

Lichtblick in einer Subgruppe

Doch ist der Studie auch Positives zu entnehmen. Denn zumindest in der Subgruppe, die keine Thrombolyse mit Alteplase erhalten hatte, waren die Ergebnisse sehr erfreulich: Bei diesen Schlaganfall-Patienten war die Nerinetid-Behandlung mit besseren funktionellen Ergebnissen, einer niedrigeren Mortalität sowie einer Abnahme der Hirninfarkt-Größe assoziiert. Dass es bei Patienten mit thrombolytischer Therapie keine ähnlich positiven Ergebnisse gab, könnte daran liegen, dass das Thrombolytikum durch pharmakokinetische Interaktion mit Nerinetid dessen protektive Wirkung verhindert hat, vermuten die Studienautoren.

Das Eicosapeptid Nerinetid setzt am postsynaptische Dichteprotein-95 (PSD 95) an, das die Funktion eines Gerüstproteins hat. Die Hoffnung ist, damit neurodegenerative Schädigungen infolge Ischämie und Reperfusion im Kontext einer raschen endovaskulären Thrombektomie bei akutem ischämischem Schlaganfall minimieren zu können. Den Nachweis sollte die randomisierte kontrollierte ESCAPE-NA1-Studie erbringen.

Dafür sind an 48 Zentren in acht Ländern insgesamt 1105 Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall infolge eines Verschlusses in einer großen Hirnarterie ausgewählt und einer intravenösen Therapie mit Nerinetid (2,6 mg/kg, maximal 270 mg) oder Placebo (Kochsalzlösung) zugeteilt worden. Alle Patienten, bei denen die Indikationskriterien für eine Thrombolyse und eine mechanische Rekanalisation mittel kathetergeführter Thrombektomie erfüllt waren, erhielten eine entsprechende Behandlung.

Primärer Studienendpunkt war der Anteil an Patienten mit einem günstigen funktionellen Ergebnis, definiert als mRS-Score von 0-2 (modifizierte Rankin Skala 0-2) nach 90 Tagen. Mit 61,4% (Nerinetid) versus 59,2% (Placebo) unterschieden sich die entsprechende Anteile in beiden Behandlungsgruppen am Ende nicht  signifikant (adjustiertes relatives Risiko 1,04, 95% Konfidenzintervall 0,96–1,14; p=0,35).

Verhindert Thrombolytikum neuroprotektive Effekte?

Damit könnte auch dieses Kapitel der Forschung zur Neuroprotektion bei Schlaganfall beendet sein. Doch noch besteht die Möglichkeit, dass sich Nerinetid im Fall einer selektiveren Anwendung als wirksam erweisen könnte. Denn in der ESCAPE-NA1-Studie schien dessen neuroprotektiver Effekt durch eine signifikante pharmakokinetische Interaktion mit dem Thrombolytikum Alteplase (p=0,033 für Interaktion) verhindert worden zu sein. Als Grund wird eine enzymatische Spaltung von Nerinetid durch Plasmin vermutet, mit subtherapeutischen Konzentrationen als Folge.

Vorteile bei Patienten ohne Lyse-Behandlung

Bei den 40% aller Studienteilnehmer, die keine Lyse-Behandlung mit Alteplase erhalten hatten, traten denn auch klinische Vorteile der Behandlung zutage. In dieser Subgruppe war der Anteil an Patienten, die einen günstigen mRS-Score von 0-2 erreichten, nach Nerinetid-Gabe deutlich höher (59,3% vs. 49,8%; adjustiertes RR 1,18; 95% KI 1,01-1,38). Zudem war die Behandlung im Vergleich zu Placebo mit einer niedrigeren Mortalität (12,8% vs. 20,3%; adjustiertes RR 0,56; 95% KI 0,34-0,95) und einem geringeren Infarktvolumen in der Bildgebung nach 24 Stunden assoziiert.

Die Studienautoren sehen darin die „vielleicht erste klare Evidenz, dass Neuroprotektion bei Menschen möglich ist“. Ebenso klar ist aber auch, dass das positive sekundäre Ergebnis einer primär negativen Studie nur „hypothesengenerierenden“ Charakter haben kann und der Überprüfung und Bestätigung in weiteren randomisierten kontrollierten Studien bedarf. 

Ob die klinische Erforschung von Nerinetid in dieser Form fortgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Nerinetid wäre nicht der erste Wirkstoff, der in Post-Hoc-Analysen glänzende Ergebnisse in Subgruppen vorweisen konnte, deren Überprüfung in adäquat konzipierten Studien dann doch mit einer Enttäuschung endete.


Literatur

Vorgestellt bei der International Stroke Conference (ICE) 2020, 18. – 21. Februar 2020, Los Angeles.


Hill M.D. et al.: Efficacy and safety of nerinetide for the treatment of acute ischaemic stroke (ESCAPE-NA1): a multicentre, double-blind, randomised controlled trial. Lancet 2020, online 20. Februar. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30258-0

Highlights

Hätten Sie es erkannt?

Linker Hauptstamm in der CT-Angiographie eines 80-jährigen Patienten vor TAVI. Was fällt auf?

Myokarditis – eine tödliche Gefahr

In der vierten Ausgabe mit Prof. Andreas Zeiher geht es um die Myokarditis. Der Kardiologe spricht über Zusammenhänge mit SARS-CoV-2-Infektionen und COVID-19-Impfungen und darüber, welche Faktoren über die Prognose entscheiden.

Aktuelles und Neues aus der Kardiologie

Subklinische Atherosklerose steigert Infarkt-Risiko enorm

Selbst wenn Menschen noch keine Beschwerden haben, geht der Nachweis einer subklinischen Atherosklerose in der CT-Angiografie mit einem erhöhten Infarkt-Risiko einher. Dabei spielen nicht nur nachweisbare Stenosen, sondern auch bestimmte Plaquecharakteristika eine Rolle.

Sind renoprotektive Therapien bei Herzinsuffizienz ohne protektiven Nutzen?

Vier bei Herzinsuffizienz empfohlene Wirkstoffklassen haben bei Patienten mit Typ-2-Diabetes renoprotektive Wirkung bewiesen. In Studien bei Herzinsuffizienz ist von günstigen renalen Effekten dieser Wirkstoffe dagegen nicht viel zu sehen. Ein Erklärungsversuch.

Stark erhöhtes Herzrisiko nach Infektionen

Schwere Infektionen erhöhen das kardiovaskuläre Risiko kurzfristig sehr deutlich, legen aktuelle Daten nahe. Ein nicht unbeträchtlicher Anteil an kardialen Komplikationen könnte demnach auf Infektionen zurückzuführen sein.

Aus der Kardiothek

Hätten Sie es erkannt?

Linker Hauptstamm in der CT-Angiographie eines 80-jährigen Patienten vor TAVI. Was fällt auf?

Rhythmus-Battle: Vom EKG zur Therapie 2

Nicht immer sind EGK-Befunde eindeutig zu interpretieren, und nicht immer gibt es eine klare Therapieentscheidung. In diesem zweiten Rhythmus-Battle debattieren Prof. Lars Eckardt, Prof. Christian Meyer und PD Dr. Stefan Perings über ungewöhnliche EKG-Fälle aus der Praxis. Wie würden Sie entscheiden?

Kardiovaskuläre und ANS-Manifestationen von Covid-19 und Long-Covid

In der Akutphase und auch im weiteren Verlauf kann eine SARS-CoV-2-Infektion eine Herzbeteiligung verursachen. Prof. Thomas Klingenheben gibt einen Update über den aktuellen Wissenstand solcher Manifestationen, und erläutert, was hinter dem Syndrom „Long-COVID“ steckt.

Neueste Kongressmeldungen

Welcher Faktor determiniert das Herzrisiko unter einer Statintherapie?

Bei Patienten, die bereits Statine zur Lipidsenkung erhalten, sind im CRP-Wert sich widerspiegelnde Entzündungsprozesse ein stärkerer Prädiktor für künftige kardiovaskuläre Ereignisse als das LDL-Cholesterin, zeigt eine umfangreiche Metaanalyse.

Hypertrophe Kardiomyopathie kein Argument gegen Sport

Wer an einer hypertrophen Kardiomyopathie leidet und regelmäßig Sport mit Belastungen über 6 MET betreibt, riskiert damit keine arrhythmischen Komplikationen, so das Ergebnis einer großen prospektiven Studie. Eine Voraussetzung muss jedoch erfüllt sein.

Herzinsuffizienz: Erinnerungstool fördert MRA-Verschreibung

In der BETTER-CARE-HF-Studie wurden zwei Systeme getestet, die Ärzte und Ärztinnen darüber benachrichtigen, welche ihrer Herzinsuffizienzpatienten für eine MRA-Therapie geeignet sind. Eines davon war besonders erfolgreich beim Erhöhen der Verschreibungsrate.

Neueste Kongresse

ACC-Kongress 2023

Der diesjährige Kongress der American College of Cardiology (ACC) fand vom 4.-6. März 2023 in New Orleans statt. In diesem Dossier finden Sie die wichtigsten Studien und Themen vom Kongress.

DGK.Herztage 2022

Vom 29.9.-1.10.2022 finden die DGK.Herztage in Bonn statt.

TCT-Kongress 2022

Hier finden Sie die Highlights der Transcatheter Cardiovascular Therapeutics (TCT) Conference 2022, der weltweit größten Fortbildungsveranstaltung für interventionelle Kardiologie. 

Kardio-Quiz März 2023/© Stephan Achenbach, Medizinische Klinik 2, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Podcast-Logo/© Springer Medizin Verlag GmbH (M)
Rhythmus-Battle 2023/© Portraits: privat
kardiologie @ home/© BNK | Kardiologie.org
ACC-Kongress 2023 in New Orleans/© pawel.gaul / Getty Images / iStock
DGK.Herztage 2022/© DGK
TCT-Kongress 2022/© mandritoiu / stock.adobe.com