Neuroprotektion nach Schlaganfall: Neuer Wirkstoff enttäuscht, aber …
Der zur Neuroprotektion nach Schlaganfall entwickelte Wirkstoff Nerinetid konnte in einer randomisierten Studie die Behandlungsergebnisse insgesamt nicht verbessern. In einer Subgruppe deutet sich aber ein möglicher therapeutischer Nutzen an.
Das Konzept der Neuroprotektion bei akutem Schlaganfall stand bisher unter keinem guten Stern. Praktisch alle als Neuroprotektiva entwickelten innovativen Wirkstoffe, die in experimentellen Studien zunächst häufig vielversprechend erschienen, enttäuschten bislang im entscheidenden klinischen Testversuch bei Schlaganfall-Patienten.
Auch die aktuell bei der International Stroke Conference (ISC) vorgestellte und simultan im renommierten Fachblatt „The Lancet“ publizierte placebokontrollierte ESCAPE-NA1-Studie scheint auf den ersten Blick die lange Kette der Misserfolge fortzusetzen. Denn bei Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall aufgrund von Verschlüssen großer Hirnarterien und geplanter endovaskulärer Thrombektomie konnte die Therapie im Hinblick auf funktionelle Ergebnisse durch den Wirkstoff Nerinetid im Vergleich zu Placebo insgesamt nicht nennenswert verbessert werden.
Lichtblick in einer Subgruppe
Doch ist der Studie auch Positives zu entnehmen. Denn zumindest in der Subgruppe, die keine Thrombolyse mit Alteplase erhalten hatte, waren die Ergebnisse sehr erfreulich: Bei diesen Schlaganfall-Patienten war die Nerinetid-Behandlung mit besseren funktionellen Ergebnissen, einer niedrigeren Mortalität sowie einer Abnahme der Hirninfarkt-Größe assoziiert. Dass es bei Patienten mit thrombolytischer Therapie keine ähnlich positiven Ergebnisse gab, könnte daran liegen, dass das Thrombolytikum durch pharmakokinetische Interaktion mit Nerinetid dessen protektive Wirkung verhindert hat, vermuten die Studienautoren.
Das Eicosapeptid Nerinetid setzt am postsynaptische Dichteprotein-95 (PSD 95) an, das die Funktion eines Gerüstproteins hat. Die Hoffnung ist, damit neurodegenerative Schädigungen infolge Ischämie und Reperfusion im Kontext einer raschen endovaskulären Thrombektomie bei akutem ischämischem Schlaganfall minimieren zu können. Den Nachweis sollte die randomisierte kontrollierte ESCAPE-NA1-Studie erbringen.
Dafür sind an 48 Zentren in acht Ländern insgesamt 1105 Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall infolge eines Verschlusses in einer großen Hirnarterie ausgewählt und einer intravenösen Therapie mit Nerinetid (2,6 mg/kg, maximal 270 mg) oder Placebo (Kochsalzlösung) zugeteilt worden. Alle Patienten, bei denen die Indikationskriterien für eine Thrombolyse und eine mechanische Rekanalisation mittel kathetergeführter Thrombektomie erfüllt waren, erhielten eine entsprechende Behandlung.
Primärer Studienendpunkt war der Anteil an Patienten mit einem günstigen funktionellen Ergebnis, definiert als mRS-Score von 0-2 (modifizierte Rankin Skala 0-2) nach 90 Tagen. Mit 61,4% (Nerinetid) versus 59,2% (Placebo) unterschieden sich die entsprechende Anteile in beiden Behandlungsgruppen am Ende nicht signifikant (adjustiertes relatives Risiko 1,04, 95% Konfidenzintervall 0,96–1,14; p=0,35).
Verhindert Thrombolytikum neuroprotektive Effekte?
Damit könnte auch dieses Kapitel der Forschung zur Neuroprotektion bei Schlaganfall beendet sein. Doch noch besteht die Möglichkeit, dass sich Nerinetid im Fall einer selektiveren Anwendung als wirksam erweisen könnte. Denn in der ESCAPE-NA1-Studie schien dessen neuroprotektiver Effekt durch eine signifikante pharmakokinetische Interaktion mit dem Thrombolytikum Alteplase (p=0,033 für Interaktion) verhindert worden zu sein. Als Grund wird eine enzymatische Spaltung von Nerinetid durch Plasmin vermutet, mit subtherapeutischen Konzentrationen als Folge.
Vorteile bei Patienten ohne Lyse-Behandlung
Bei den 40% aller Studienteilnehmer, die keine Lyse-Behandlung mit Alteplase erhalten hatten, traten denn auch klinische Vorteile der Behandlung zutage. In dieser Subgruppe war der Anteil an Patienten, die einen günstigen mRS-Score von 0-2 erreichten, nach Nerinetid-Gabe deutlich höher (59,3% vs. 49,8%; adjustiertes RR 1,18; 95% KI 1,01-1,38). Zudem war die Behandlung im Vergleich zu Placebo mit einer niedrigeren Mortalität (12,8% vs. 20,3%; adjustiertes RR 0,56; 95% KI 0,34-0,95) und einem geringeren Infarktvolumen in der Bildgebung nach 24 Stunden assoziiert.
Die Studienautoren sehen darin die „vielleicht erste klare Evidenz, dass Neuroprotektion bei Menschen möglich ist“. Ebenso klar ist aber auch, dass das positive sekundäre Ergebnis einer primär negativen Studie nur „hypothesengenerierenden“ Charakter haben kann und der Überprüfung und Bestätigung in weiteren randomisierten kontrollierten Studien bedarf.
Ob die klinische Erforschung von Nerinetid in dieser Form fortgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Nerinetid wäre nicht der erste Wirkstoff, der in Post-Hoc-Analysen glänzende Ergebnisse in Subgruppen vorweisen konnte, deren Überprüfung in adäquat konzipierten Studien dann doch mit einer Enttäuschung endete.
Literatur
Vorgestellt bei der International Stroke Conference (ICE) 2020, 18. – 21. Februar 2020, Los Angeles.
Hill M.D. et al.: Efficacy and safety of nerinetide for the treatment of acute ischaemic stroke (ESCAPE-NA1): a multicentre, double-blind, randomised controlled trial. Lancet 2020, online 20. Februar. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30258-0