Nachrichten 16.12.2021

Alternativer Radialis-Zugang: Randomisierte Studie zeigt Vor- und Nachteile

Ein alternativer Zugangsweg über die distale A. radialis (kurz dTRA) bietet theoretisch Vorteile. Die Datenlage dazu ist jedoch limitiert. Jetzt hat der dTRA in der bisher größten randomisierten Studie sein Potenzial unter Beweis gestellt, wobei sich auch seine Schwächen offenbarten.

In der bisher größten randomisierten prospektiven Studie hat der Einsatz des distalen transradialen Zugangsweges (dTRA) das Risiko für Radialisverschlüsse deutlich reduzieren können im Vergleich zum konventionellen Radialis-Zugang. Die Ergebnisse der ANGIE-Studie (Anatomical sNuffbox for coronary anGiography and IntervEntions) wurden aktuell im JACC publiziert.

Die Studie demonstriere, dass der dTRA-Zugang für Koronarangiografie- und PCI-Prozeduren eine effektive Alternative und/oder eine komplementäre Strategie zu bisherigen Präventionsmaßnahmen darstellen könnte, um das Risiko für Radialisverschlüsse im Unterarm weiter zu reduzieren, folgern die Studienautoren um den Kardiologen Prof. Grigorios Tsigkas aus ihren Daten.

dTRA gewinnt immer mehr Anhänger

Der dTRA-Zugang hat in den letzten Jahren u.a. auf Twitter (#dTRA) eine wachsende Anhängerschaft unter interventionell tätigen Kardiologinnen und Kardiologen gewonnen. Dabei wird – statt wie üblich am Unterarm proximal des Handgelenks – weiter distal an der Handoberfläche im Bereich der sog. Tabatiére (auch Snuffbox genannt) oder im ersten Intermetakarpalraum punktiert. Beobachtungsstudien und kleinere randomisierte Studien suggerieren, dass bei einem solchen Vorgehen weniger Verschlüsse der proximalen A. radialis (RAO) zu erwarten sind. Diese Annahme scheint auch unter physiologischen/anatomischen Gesichtspunkten logisch: Denn wenn im Bereich des reichhaltigen Anastomosen-Netzwerkes in der Handgelenksregion punktiert wird, kann der anterograde Blutfluss im Unterarm während einer Kompression oder im Falle eines Verschlusses an der Punktionsstelle aufrechterhalten werden, wodurch sich das Risiko für RAO verringern sollte.

Über 1.000 randomisierte Patienten

Diese Annahme hat sich in der randomisierten Singlecenter-Studie ANGIE nun erneut bestätigt. Insgesamt 1.042 Patienten mit einer Indikation zur Koronarangiografie oder PCI (keine STEMI-Patienten) wurden im Patras Universitätsklinikum in Griechenland randomisiert: Bei der einen Hälfte wurde der Eingriff über den konventionellen Radialis-Zugang vorgenommen, bei den restlichen über den dTRA. Der primäre Endpunkt war die RAO-Rate 60 Tage nach Randomisierung, dokumentiert über eine Dopplersonografie.

Deutlich weniger Radialisverschlüsse

Die Verwendung der dTRA hatte bzgl. des primären Endpunkt beträchtliche Vorteile: So sank das relative Risiko für einen Radialisverschluss um 53,2% im Vergleich zum konventionellen Zugangsweg (3,7% vs. 7,9%; p=0,0014). In absoluten Zahlen ausgedrückt: Bei 24 Patienten müsste der Eingriff über den dTRA erfolgen, um einen RAO zu verhindern. Ein weiterer Vorteil des alternativen Zugangsweges: Die Zeit bis zur Hämostase war bei seiner Verwendung signifikant kürzer als mit dem konventionellen Radialis-Zugang (60 vs. 120 Minuten; p ˂ 0,001).

Aber dTRA hat auch Schwächen

Doch die randomisierte Studie offenbarte auch – zumindest augenblickliche – Schwächen des dTRA: Die Crossover-Rate war in dieser Gruppe dreimal so hoch wie in der mit dem gewöhnlichen Zugang (21,8% vs. 5,5%; p ˂ 0,001), die Prozedur dauerte zudem signifikant länger (14 vs. 11 Minuten; p ˂ 0,001) und die Strahlungbelastung war höher (Dosisflächenprodukt von 32729 vs. 28909 cGy/cm², p=0,02). Die Hauptgründe für die häufigen Crossovers in der dTRA-Gruppe waren Schwierigkeiten bei der Punktion oder Schleuseneinführung. Deutlich wird das daran, dass die Ärzte bei der dTRA mehr Punktionen benötigten und sie bei der Zugangslegung mehr Zeit benötigten als mit der konventionellen TRA (im Median 2 [1–3] vs. 1 [1–2] Punktion bzw. 120 vs. 75 Sekunden; beides p ˂ 0,001). Die Rate erfolgreicher Schleuseneinführungen war im Falle des dTRA signifikant geringer (78,7% vs. 94,8%; p ˂ 0,001).

Fehlende Erfahrung mit neuem Zugangsweg

Warum die Ärzte solche Schwierigkeiten mit der dTRA hatten, liegt für die beiden Kardiologen Prof. Marco Valgimigli und Prof. Antonio Landi auf der Hand: Die Punktion und Schleuseneinführung an der dTRA sei herausfordernder, weil die Durchmesser der A. radialis an dieser Stelle kleiner sind, erläutern die in Lugano tätigen Kardiologen in einem Editorial. Dazu kommt die fehlende Erfahrung mit dem neuen Zugangsweg. Valgimigli und Landi könnten sich jedoch vorstellen, dass sich dieser Nachteil mit zunehmender Expertise der Behandler in den Griff bekommen lässt. Ein Hinweis für ihre These liefert eine präspezifizierte Analyse der Studie: In dieser zeigte sich über die Zeit ein Trend zu einer geringeren Crossover-Rate: So betrug die Rate in der ersten Quartile der Studie (Mai 2019 bis August 2019) noch 26,2%, am Ende (September 2020 bis Februar 2021) nur noch 16,4% (p=0,073). Ob sich durch eine breitere Anwendung der Technik tatsächlich Parameter der Prozedur verbessern lassen, ist bisher allerdings nicht bewiesen.

Einfluss auf klinische Endpunkte aktuell unklar

Unklar ist zudem, wie sich die häufigeren Crossover und auch die geringere RAO-Rate in der dTRA-Gruppe am Ende auf die Prognose der Patienten auswirken. Harte klinische Endpunkte wurden in der Studie nicht evaluiert. Untersucht werden sollte den Studienautoren zufolge auch, ob die erhöhte Strahlenexposition in der dTRA-Gruppe nur dem Zufall geschuldet war oder einen Grund hatte. Eine weitere wichtige Limitation der Studie: Die Ergebnisse lassen sich nicht auf STEMI-Patienten übertragen, weil diese von der Studienteilnahme ausgeschlossen waren.

Trotz der offenen Fragen glauben Valgimigli und Landi an eine Zukunft für den dTRA. Die Reise des distalen radialen Zugangs sei noch am Anfang, betonen sie, „und nur die Zukunft wird uns zeigen, wie distal er am Ende landet.”

Literatur

Tsigkas G et al. Distal or Traditional Transradial Access Site for Coronary Procedures; A Single Center, Randomized Study. J Am Coll Cardiol Intv. 2021. DOI: 10.1016/j.jcin.2021.09.037

Valgimigl M, Landi A. Distal Transradial Access for Coronary Procedures: Old Certainties, Novel Challenges. J Am Coll Cardiol Intv. 2021. DOI: 10.1016/j.jcin.2021.10.032

Highlights

Hätten Sie es erkannt?

Linker Hauptstamm in der CT-Angiographie eines 80-jährigen Patienten vor TAVI. Was fällt auf?

Myokarditis – eine tödliche Gefahr

In der vierten Ausgabe mit Prof. Andreas Zeiher geht es um die Myokarditis. Der Kardiologe spricht über Zusammenhänge mit SARS-CoV-2-Infektionen und COVID-19-Impfungen und darüber, welche Faktoren über die Prognose entscheiden.

Aktuelles und Neues aus der Kardiologie

Welcher Faktor determiniert das Herzrisiko unter einer Statintherapie?

Bei Patienten, die bereits Statine zur Lipidsenkung erhalten, sind im CRP-Wert sich widerspiegelnde Entzündungsprozesse ein stärkerer Prädiktor für künftige kardiovaskuläre Ereignisse als das LDL-Cholesterin, zeigt eine umfangreiche Metaanalyse.

Süßstoff Erythrit könnte Herzinfarkt- und Schlaganfall-Risiko erhöhen

Mit Süßstoff gesüßte Lebensmittel, sog. Light-Produkte, werden oftmals als gesundheitsfördernd propagiert. Doch offenbar scheinen sie genau das Gegenteil zu bewirken, wie aktuelle Untersuchungen nahelegen.

Hypertrophe Kardiomyopathie kein Argument gegen Sport

Wer an einer hypertrophen Kardiomyopathie leidet und regelmäßig Sport mit Belastungen über 6 MET betreibt, riskiert damit keine arrhythmischen Komplikationen, so das Ergebnis einer großen prospektiven Studie. Eine Voraussetzung muss jedoch erfüllt sein.

Aus der Kardiothek

Hätten Sie es erkannt?

Linker Hauptstamm in der CT-Angiographie eines 80-jährigen Patienten vor TAVI. Was fällt auf?

Rhythmus-Battle: Vom EKG zur Therapie 2

Nicht immer sind EGK-Befunde eindeutig zu interpretieren, und nicht immer gibt es eine klare Therapieentscheidung. In diesem zweiten Rhythmus-Battle debattieren Prof. Lars Eckardt, Prof. Christian Meyer und PD Dr. Stefan Perings über ungewöhnliche EKG-Fälle aus der Praxis. Wie würden Sie entscheiden?

Kardiovaskuläre und ANS-Manifestationen von Covid-19 und Long-Covid

In der Akutphase und auch im weiteren Verlauf kann eine SARS-CoV-2-Infektion eine Herzbeteiligung verursachen. Prof. Thomas Klingenheben gibt einen Update über den aktuellen Wissenstand solcher Manifestationen, und erläutert, was hinter dem Syndrom „Long-COVID“ steckt.

Kardio-Quiz März 2023/© Stephan Achenbach, Medizinische Klinik 2, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Podcast-Logo/© Springer Medizin Verlag GmbH (M)
Rhythmus-Battle 2023/© Portraits: privat
kardiologie @ home/© BNK | Kardiologie.org